Rezension
La Cosa Nostra
33/34/35
2022
200 S. + 600 S.
„La Cosa Nostra gegen dein Mobiltelefon“ dichtet Arne hier einleitend in einer Umdichtung von Guten Tag (Die Reklamation) der Wir sind Helden. In der Tat ist der Gegensatz zwischen der schnelllebigen, flüchtigen Handywelt und dem Eintauchen in die LCN-Fanzinewelt groß. Vor über einem Jahr sind die beiden Bände der LCN 33/34/35 erschienen und praktisch genauso lang habe ich gebraucht, um sie mit Unterbrechungen Stück für Stück zu lesen. Denn einfaches Drüberlesen der Texte und Durchblättern der Fotoseiten geht hier nicht. Man braucht Zeit dafür – aber es ist bestinvestierte Zeit. Erneut durfte ich zum glücklichen auserwählten Kreis zählen, der das „Rundschreiben an Freunde und Bekannte“ erhält.
LCN 33
Der Rückblick auf die Saison 2020/21 und die Hinrunde 2021/22 mit dem SSV Ulm beinhaltet neben Berichten von Spielbesuchen u.a. ein Interview mit den Ulmer Broken Society Ultras und persönliche Betrachtungen zum eigenen Zugang zum Thema 175 Jahre SSV Ulm 1846.
Ein dicker Brocken an Fanzine-Rezensionen fehlt hier auch nicht. Pointiert und mit klarer Meinung dazu, was gefällt und was nicht, wird hier rezensiert. Es ist auch wieder viel darunter, das ich nicht kannte. Mit Schwarzmalerei 7, dem Athleticker Gugl-Spezial und dem Kampanien-Buch Lo stile di vita ist auch etwas aus Österreich dabei. Dazu liest man über italienische Landeskunde, Turin, die Abruzzen oder ein Interview zur Geschichte der Verwendung der Freak-Brothers-Motive bei Ultrà Sankt Pauli.
Fußballreisen gab es in den Pandemiezeiten 2020 und 2021 trotzdem, u.a. nach Salzburg, auf einen Innsbruck-Trip mit einigen Eindrücken und Graffiti-Fotos oder zu Obermais. Eine wieder unglaubliche Menge an historischem Fanszenen-Hintergrundmaterial bietet ein Bericht zu Cattolica. Da durfte ich auch ein Foto zur Bebilderung beisteuern. Höhepunkt dieses Heftteils ist ein Besuchsbericht in Venedig samt sehr guten Interviews mit Guly (VM) und Tommaso (Rapid), Fotoseiten und einer deutschen Übersetzung des Veneziamestre-Artikels auf pianetaempoli.it.
LCN 34/35
Spécial France. 362 Arbeitsstunden verzeichnen die Zahlenangaben für die Entstehung des Bandes, in dem über 20 französische Vereine, 27 Kurven und 40 Gruppen berichtet wird. Seitenzahlen gibt es wie üblich nicht. Mir selbst ist Frankreich fern, auch wenn ich es interessant finde. Ich war selten dort, weiß wenig und habe nie wirklich einen Bezug dazu gefunden. Italien hat mich hingegen stets fasziniert. Für die Ulmer Ultrà-Anfänge war das ganz anders: „Der Anschauungsunterricht dazu findet allerdings weniger in Italien als vielmehr in Frankreich statt.“ Die Erzählungen vom „Erweckungserlebnis“ lassen einen das Gefühl der ersten Schritte und Erfahrungen nachempfinden.
Die Lektüre des umfangreichen Blocks zu Olympique de Marseille fiel passenderweise mit einem sich mehr oder weniger zufällig ergebenden Besuch von mir in Marseille zusammen und schnell wurde mir bewusst, dass die Wissensfetzen, die ich zu Marseille hatte, nichts weniger als sträflich oberflächlich gewesen waren. Dasselbe gilt für PSG. Tiefgehend wird einem in mehreren Interviews die Geschichte und Vielfalt der einstigen Virage Auteuil, über die zuletzt schon viel in Erlebnis Fußball gelernt wurde, deutlicher. Dazu wurde auch das Bild des heutigen Collectif Ultras Paris für mich klarer. In Paris war ich noch nie. Mein Bild des Lebens in der Stadt hat das Buch Bienvenue en Banlieue Rouge geprägt. Es kommt hier auch zu Ehren und es gibt sogar ein Interview mit dem Autor. Das ist auch insofern bemerkenswert, als dieser Ultras ja distanziert gegenübersteht. Er äußert sich diesbezüglich hier aber nicht ausufernd und erklärt dafür Wichtiges zum Verständnis der Banlieues. Wie an den oben genannten Zahlen ersichtlich ist, gibt es hier noch sehr viel mehr als nur Marseille und Paris. Große und kleinere Kurven werden ausführlich vorgestellt. Auch hier macht die Faszination der LCN neben den Fotos das Eintauchen in die Interviews aus, die man sonst so nie kundig zusammengetragen und perfekt übersetzt lesen könnte. Es riesiger Haufen an aufbereiteten Informationen zum Kurvengeschehen und seiner Geschichte. Detektivstories wie jene vom OM-Fetzenverlust an Slovan Liberec in Prag 1991. Interessante Details zu deutschen Freundschaften nach Frankreich und wie sowas auch zu Ende gehen kann (OM-FCN). Stilistisch interessant ist es auch hier, auf eine „persönliche Lesereise in Stichpunkten“ mitgenommen zu werden – eine nicht ausgefeilte sondern in Notizform geschriebene Rezension des 25-Jahre-Buch der Magic Fans von AS Saint-Étienne („Verkauf nur an Mitglieder, Nummerierung etc. pp, was man eben so macht, wenn man nicht will, dass das Buch in ‚falsche‘ Hände gerät“) mitgenommen zu werden. Es erinnert an die einst gelernte, fast vergessene, aber eigentlich wertvolle Textsorte des Exzerpts. Die Anzahl von 73 Spielen, die ein Interviewpartner aus Münster in einem Jahrzehnt mit den Freunden von Girondins de Bordeaux gemacht hat, beeindruckt. Offenbar eklatante Wissenslücken wurden hier gefüllt, wie zu Caen, und gelernt, dass das Rückwärtshüpfen in Frankreich La Grecque genannt wird, und wann und wo das entstand. Engstirnigen Fußballfokus gibt es hier ja auch nie, sondern einen breiten kulturellen Blick, der Einflussfaktoren miteinbezieht. Man liest so von Le Corbusier, Punkrock oder Mikis Theodorakis. Ich wusste wenig von Frankreich. Ich weiß jetzt wohl immer noch wenig, aber doch einiges mehr.
A5 Format / erhältlich für „Freunde und Bekannte“
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