Dienstag, 13. September 2022
Olympique de Marseille – Eintracht Frankfurt 0:1 (0:1)
Champions League, Gruppe D, 2. Runde, 13.9.2022
Stade Vélodrome, 62.500
Eine Begegnung, die Eskalationspotential hatte und das auch einlöste. Das letzte Aufeinandertreffen hier fand 2018 wegen einer UEFA-Strafe für OM als Geisterspiel und damit auch unter Verbot von Frankfurter Auswärtsfans statt. Wie damals wurde auch dieses Jahr von der Polizei die Anwesenheit bzw. das Auffallen als Auswärtsfan in der Stadt Marseille außerhalb des Stadions bei Strafe verboten, wenn man Anhängerin oder Anhänger von Eintracht Frankfurt ist. Im Nachhinein wurde das Vorgehen 2018 von einem französischen Gericht für rechtswidrig erklärt. Das wird wohl auch diesmal so sein, ändert aber am Tag selbst nichts am Durchgreifen der Polizei.
Während man sich Stunden vor dem Spiel noch vor dem Stadion mit Pyro einsang, füllten sich drinnen beide Kurven eineinhalb Stunden vor dem Spiel schon und vor allem die South Winners waren da schon auf erstaunlicher Betriebstemperatur am Singen.
Ein Pfeifkonzert ertönte, als sich der Gästeblock 40 Minuten vor Spielbeginn erstmals akustisch meldete. 3.300 Karten gab es für den Gästesektor, der beim letzten Umbau von gegenüber auf die Haupttribünen herüber verlegt worden war. Daher konnte ich ihn nicht einsehen und kann über ihn optisch nichts sagen. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn wurden zwischen Virage Nord und Auswärtssektor, so wie es hier nicht zum ersten Mal der Fall war, zahlreich Pyrotechnik hin und hergeschossen und gejubelt, wenn sie in den jeweils dicht gedrängten Menschenreihen einschlug und durch Brandwunden Schwerverletzte oder mehr zu erwarten waren. Das übrige Stadionpublikum und die Stadionsprecherdurchsagen nahmen das recht routiniert hin. Nach der Einstellung des Frankfurter Supports in der ersten Hälfte aufgrund Verletzter im Sektor wurde dieser dann in der zweiten Hälfte hörbar besonders stimmgewaltig aufgenommen.
Zu Spielbeginn hatten im oberen Rang der Virage Sud die South Winners in ihren Farbe das Vereinsmotto „droit au but“ („geradewegs zum Tor“ / „auf den Punkt“) auf die Tribüne geschrieben. Im unteren Rang zeigte das Commando Ultra '84 eine Überrollfahne mit CU'84-Aufschrift. Gegenüber auf der Virage Nord bzw. Virage Depé war über beide Ränge eine Zettelchoreo zu sehen, welche den Champions-League-Pokal zeigte und dazu die Botschaft per Spruchband: „L'Europe va trembler. Revolta les marseillais.“ (Europa wird erzittern. Die Marseillais sind wieder da.). 2022/23 jährt sich der Champions-League-Sieg von 1992/93 zum dreißigsten Mal.
Die von beiden Kurven ausgehende Atmosphäre war lange Zeit mehr als beachtlich. Einerseits die Virage Sud mit der ältesten französischen Ultragruppe, den 1984 gegründeten Commando Ultra '84 im unteren Rang und den South Winners (1987) darüber. Andererseits die Virage Nord mit Dodgers (1992), Marseille Trop Puissant (1994), Fanatics (1988). Bekannt war hier einst auch Yankee Nord (1987), die 2018 vom Verein aus dem Stadion ausgeschlossen wurden. An ihrer Stelle ist heute Club des Amis de l'OM zu sehen. Gesungen wird auf den Rängen und Tribünen jeweils unterschiedlich. Algerische Fahnen waren hüben wie drüben zu sehen. Unterschiedliche Ansätze der internationalen Politik zeigten mehrere palästinensische Fahnen bei den MTP und sowohl eine israelische Fahne als auch eine palästinensische Fahne bei den South Winners.
Eintracht Frankfurt gewann das Match mit einem Tor kurz vor der Pause. Nach dem wieder aberkannten vermeintlichen 0:2 kamen von der Virage Nord wieder Feuerwerksraketen Richtung Auswärtsblock und es wurden dann und nach Schlusspfiff wieder Pyro hin und her auf die Menschen auf der anderen Seite geschossen. Das Netz fing wie schon zuvor manches, aber nicht alles ab.
Wohl enttäuscht über Niederlage und Gesamtsituation attackierte ein Marseiller Mob weit nach Schlusspfiff den Eingang zur Haupttribüne. Hoch zu Ross richtete die Polizei dagegen erst wenig aus und versprühte dann großflächig Tränengas.
Olympique de Marseille wurde 1899 gegründet. Damals war es noch ein Rugbyverein, der Fußball kam erst 1902 dazu. 1924 gewann OM mit dem ersten Cupsieg als erster Verein außerhalb Paris einen nationalen Titel. Die meisten Titel hat OM mit zehn französischen Cupsiegen im Coupe de France de football errungen (1924, 1926, 1927, 1935, 1938, 1943, 1969, 1972, 1976, 1989), dazu kommen noch neun Finalniederlagen (zuletzt 2016). Unter Hinzurechnung der allgemein nicht gezählten Amateurmeisterschaft 1929 bzw. des aberkannten Meistertitels 1993 führt OM allerdings im Vereinswappen einen Stern für zehn Meistertitel. Nach offizieller Zählung sind es tatsächlich aber nur neun Titel (1936/37, 1947/48, 1970/71, 1971/72, 1988/89, 1989/90, 1990/91, 1991/92 und 2009/10) und Rekordmeister sind derzeit (noch) ex aequo mit jeweils zehn Titeln AS Saint-Étienne (zuletzt 1980/81) und PSG (zuletzt 2021/22).
Die erfolgreichste Zeit und der größte Absturz sind mit dem Namen Bernard Tapie verbunden. Der 2021 verstorbene Unternehmer (u.a. 1990 bis 1993 Mehrheitseigentümer von Adidas) und Politiker (Abgeordneter und Minister) kaufte sich 1986 bei OM ein und wurde Präsident. Mit viel Geld und illustren Weltklassespielern (Papin, Waddle, Francescoli, Völler etc.) kamen unerreichte Erfolge mit fünf Meistertiteln in Serie 1988/89 bis 1992/93 und dem Champions-League-Sieg 1992/93. Das Ende Tapies und der OM-Erfolgsära kam, als Bestechungszahlungen an Spieler von Valenciennes zur Absicherung des Meistertitels 1993 aufgedeckt wurden. OM wurde der Meistertitel aberkannt und der Verein musste 1994/95 in die zweite Liga zwangsabsteigen. Tapie kam ins Gefängnis.
OM ist Aushängeschild und Spiegelbild der stets multikulturellen Stadt Marseille. „Schon in den 190ern und 1940ern kickten Algerier, Ivorer, Ghanaer und selbst deutsche Fremdenlegionäre im blau-weißen Trikot. Mit Larbi Ben Barek, einem außergewöhnlichen Techniker, war ein Marokkaner einer der ersten dunkelhäutigen Weltstars bei OM.“ berichtet Mario Sonnberger in einem Abriss der Vereinsgeschichte im ballesterer 33.
Rapid war am 26.12.1928 zu einem Freundschaftsspiel auf Tournee in Marseille zu Gast und trennte sich vor 10.000 Zuschauerinnen und Zuschauern im alten Stade de l'Huveaune 2:2 mit OM. Trainer war hier 1933 bis 1935 Vinzenz Dittrich (sechsmal Meister als Rapidspieler in den Jahren 1913 bis 1925).
Das Stade Vélodrome wurde 1938 für die WM 1938 eröffnet. Dabei fand zwar auch bereits ein Fußballspiel zwischen Olympique und Torino statt, Höhepunkt der Eröffnungsfeierlichkeiten war aber ein Radrennen. Radrennen waren in jener Zeit in Frankreich ebenso wie in Italien die größten Sportevents. Auf der das Spielfeld umschließenden Radrennbahn im Inneren, dem namensgebenden Velodrom, fanden regelmäßig Radrennen statt. Dazu kamen auch Motorrad- und Autorennen. Für Fußball war das Stadion auch etwas weitläufig, denn die Tribünen trennte neben der Radrennbahn auch eine Leichtathletiklaufbahn vom Spielfeld. Fußballspiele fanden hier so bis in die späten 1940er Jahren nur selten statt. Erst als die Radleidenschaft abnahm und gleichzeitig OM einen Aufschwung hatte (französischer Meister 1948), spielte Olympique de Marseille hier öfters. Bei großen Spielen wurden Holzbänke auf die Radrennbahn und die Laufbahn gestellt. Ab 1971 blieben diese dauerhaft stehen. Die Zeit der Radrennen ist endgültig vorbei. Für die WM 1998 wurde das Stadion erstmals groß umgebaut. Drei Tribünen wurden abgerissen und nahe am Spielfeld neu gebaut. Dabei verschwanden Rennbahn und Laufbahn endgültig. Den letzten Umbau gab es für die EM 2016, als das Stadion mit einer in Farben beleuchteten Außenhaut komplett überdacht wurde. Das Stadion bietet 67.394 Plätze.
Vor dem Spiel wurde die Begegnung in der Youth League besucht und die Stadt Marseille besichtigt.
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