Donnerstag, 6. Oktober 2022

Die Hitzeschlacht von Lausanne



Rezension


Kurt Palm
Die Hitzeschlacht von Lausanne
Österreich – Schweiz 1954
St. Pölten / Salzburg 2008
(Residenz Verlag)
176 S.










Eines der legendärsten Spiele der Geschichte der österreichischen Nationalmannschaft ist Thema dieses Buchs von Kurt Palm aus dem Jahr 2008. Das Viertelfinalspiel der WM 1954 in der Schweiz zwischen WM-Mitfavorit Österreich und Gastgeber Schweiz ist mit dem Ergebnis von 7:5 das torreichste Spiel der Weltmeisterschaftsgeschichte. Legendär ist es aber auch einerseits wegen des dramatischen Spielverlaufs und andererseits wegen der Bedingungen von 40 Grad Celsius an jenem Nachmittag im Stade Olympique de la Pontaise von Lausanne, welche auf österreichischer Seite den Tormann Kurt Schmied und auf Schweizer Seite den Kapitän Roger Bocquet kollabieren ließen.

Bevor das Buch zur WM gelangt, beschreibt der als Regisseur und Autor bekannte Palm die Qualifikation und Vorbereitung der Nationalmannschaft sowie die handelnden Personen. Auffällig ist die hohe Anzahl an acht Testspielen in der WM-Vorbereitung ab Anfang Mai, wobei darunter sowohl reguläre Länderspiele als auch Testspiele gegen Vereine vom AC Milan bis Jahn Regensburg und Vereinsauswahlen waren. Anhand der Presseberichterstattung werden die Spiele und auch die Umstände dargestellt. Das sechste Vorbereitungsspiel am mit 16.000 Leuten gefüllten Innsbrucker Tivoli sticht dabei besonders hervor. Palm zitiert aus der damaligen Kurier-Reportage: „Tiroler Fußballfanatiker, die sich geprellt sahen, weil an Stelle der A-Mannschaft die B-Garnitur gegen ein Auswahlteam der Arlbergliga antrat, erzwangen dadurch, daß sie die Bälle ,beschlagnahmten‘, Bierflaschen warfen und schließlich das Spielfeld stürmten, das Antreten der A-Mannschaft. (...) Erst nachdem Edi Frühwirth die Erklärung abgegeben hatte, das Weltmeisterschaftsteam werde nun mit Ausnahme von Schmied, Probst und Wagner komplett weiterspielen, konnte die Ordnung wiederhergestellt und das Match weitergespielt werden.“ Bemerkenswert.

Dazu gibt es diverse Statistiken und kolportierte Anekdoten, ein Interview mit Alfred Körner sowie einen Ausblick auf die weitere Geschichte der WM 1954 und das österreichische Abschneiden auf Platz 3. Die dargebotenen Fakten bringen ein wenig zeitgenössisches Kolorit in die Schwarz-Weiß-Bilder im Kopf. Da werden etwa die Staatsoberhäupter der an der WM teilnehmenden Ländern ebenso aufgelistet wie u.a. das Kinoprogramm in Wien und Zürich oder Zahlen zu Österreich und der Schweiz im Vergleich im Jahr 1954.

Nach Berichten über die ersten WM-Spiele gelangt das Buch nach der Hälfte zum dramaturgischen Höhepunkt, dem 26. Juni 1954 in Lausanne. Palm berichtet auf Basis der zeitgenössischen Medien vom Spiel Österreich-Schweiz. Interessant ist dabei das Kapitel über die unterschiedlichen Angaben der Anzahl der Zuschauerinnen und Zuschauer im damals brandneuen Stade Olympique de la Pontaise. Es bot 50.310 Plätze. Offiziell waren bei diesem Spiel aber nur 37.218 Leute, was angesichts eines Spiels des Gastgebers im WM-Viertelfinale wenig erscheint. Es ist hier allerdings zu lesen, dass es keine Karten mehr gab und „Phantasiepreise“ am Schwarzmarkt zu bezahlen waren. „Ein Schweizer bot mir eine Woche Gratisaufenthalt, einschließlich Verpflegung, wenn ich ihm einen Sitzplatz für das heutige Spiel verschaffe.“ zitiert Palm einen Korrespondentenbericht. Die Angaben in der Berichterstattung schwankten deutlich, wie aufgelistet wird. Da ist von 30.000, 31.000, 35.000, 36.00, 37.000, 48.000, 50.000, 56.000 oder sogar 65.000 die Rede. Auf den im Buch abgedruckten Bildern des Spiels sind die im Hintergrund des Spielgeschehens zu sehenden Stadionränge zum Bersten gefüllt. Den durch die Zahlen erweckten Eindruck eines halbleeren Stadions kann man hinterfragen. Palm verwendet in seinem Datenblatt im Buch die Zahl von 50.000 Zuschauerinnen und Zuschauern bei diesem Spiel, was realistisch wirkt. 2.000 österreichische Nationalmannschaftsfans sollen dabei gewesen sein.

Der Spielverlauf wirkt auch Jahrzehnte danach unglaublich. Die österreichische Nationalmannschaft, die seit sieben Länderspielen kein Tor erhalten hatte, lag nach 19 Minuten bereits 0:3 zurück. Noch unglaublicher ist es aber, dass es zur Minute 34 dann wiederum 5:3 für Österreich stand. Die Schweizer Nationalmannschaft agierte damals mit einem gefürchteten Defensivsystem, dem sogenannten Schweizer Riegel, der hier in wenigen Minuten zusammenbrach. Die von Palm zitierten Schweizer Spielanalysen beschuldigten den Trainer Karl Rappan, einen seit den 1930er Jahren in der Schweiz arbeitenden Österreicher (und seinerzeit aktiven Nazi, was im Buch nicht vorkommt) dafür, nach dem Schweizer 3:0 nicht völlig auf das Halten des Ergebnis umgestellt und einen Stürmer nach hinten beordert zu haben. „Die österreichischen Stürmer hatten früh erkannt, daß es an diesem Tag ein probates Mittel gab, um den Schweizer Riegel erfolgreich aufzubrechen: Weitschüsse. So überrascht es auch nicht weiter, daß drei der ersten fünf Treffer der Österreicher durch Schüsse von außerhalb der Strafraumgrenze erzielt wurden.“ schreibt Palm.

In die Geschichte ging das Spiel schlussendlich wegen der Hitze ein. Beim zusammengebrochenen Schweizer Spieler Roger Bocquet (Lausanne-Sport) stellten Untersuchungen später einen Hirnturmor fest, der auch für den Hitzekollaps mitverantwortlich gewesen sein dürfte. Es war sein letztes Länderspiel,der Tumor konnte aber erfolgreich behandelt werden. Dramatisch war der Hitzeschlag oder Sonnenstich auf österreichischer Seite für den Tormann Kurt Schmied. Genauso wie Bocquet konnte der Vienna-Spieler (Meister 1954/55) nicht ausgewechselt werden, da dies damals in den Fußballregeln noch nicht vorgesehen war. Die Verteidiger Happel, Hanappi (Rapid) und Barschandt (Wiener Sport-Club) sprangen für ihn ein und putzten für den auf der Linie hin und her schwankenden Schmied aus. Aus heutiger Sicht eine unverantwortliche schwere Gesundheitsgefährdung des Spielers, ihn weiterspielen zu lassen. Erleichterung verschafften den Spielern auch nicht manche Zuschauerinnen und Zuschauer, wie die KPÖ-Tageszeitung Volksstimme berichtete: „Die ,Bierflaschenwerfer‘ sind offenbar eine neue Type von Wettspielbesuchern, denn auch beim Spiel unserer Mannschaft gegen die Schweiz flogen nach dem von Wagner erzielten sechsten Treffer etliche Flaschen auf das Spielfeld. Probst und Körner, die solche Geschosse aufhoben, stellten lakonisch fest: ,Sie san leer‘.“

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