Dienstag, 16. Februar 2021
Erlebnis Fußball, 82
Rezension
Erlebnis Fußball
Ausgabe 82
01/2021
196 S.
Mit Interviews mit der Grazer Sturmflut und den Linzer Landstrasslern bietet das Heft aus österreichischer Sicht spannenden Stoff. Übergroße Interviews haben sich in den letzten Ausgaben (siehe 79, 80 und 81) zu einem Markenzeichen des Hefts entwickelt. Das lässt besonders in einer Zeit, wo es keine Kurven zu bestaunen gibt und Reisen nicht möglich sind, Spannendes erfahren.
Den mit Abstand größten Brocken macht das Sturmflut-Interview aus. 126 Seiten Interview plus drei Seiten Epilog. Das ist schon allein vom Umfang her ein Wahnsinn. Noch beeindruckender ist dann aber, wie weit ausholend und in die Tiefe gehend das Gespräch selbst ist. Man erfährt hier viel darüber, wie die Gruppe tickt und wie sie Dinge sehen. Themen sind u.a. die Entstehungszeit als Fanklub und dessen Wandlung („Zwischen 2000 und 2004 hat das begonnen und man hat versucht, sich als Ultras zu definieren und zu positionieren.“), Innenleben mit Diskussionsthemen und Generationenfrage in der Gruppe, das Auftreten der Kurve („Ich habe schon das Gefühl, wenn man sich andere Kurven so anschaut, dass oft die Gruppe über allem steht. Bei uns ist die Rangfolge: erst Sturm, dann die Kurve, dann die Gruppe. Und das gilt für alle in unserer Szene.“), politische Haltungsfrage, Frauen in der Gruppe, Lokalpatriotismus, die Entwicklung der Kurve, Vereinspolitik, Choreos und Tifostil („Wir sind halt eine Sängerkurve“), Fanzines, das Vorbild Pisa, die Beziehung zu Werder Bremen und allgemein der Umgang mit Freundschaften („Es ist uns als Gruppe nicht so wichtig, ob eine Fahne hängt oder nicht. Wir sind befreundet, weil wir uns eben gut verstehen, fühlen uns wohl, so wie es ist und wir müssen nach außen nicht irgendetwas zeigen, um uns zu profilieren oder sonst was.“) oder die abschätzige Betrachtung der Szene des GAK aufgrund Zusammenarbeit mit der Polizei.
Rapid und Wien kamen erwartungsgemäß an verschiedenen Stellen des Gesprächs als Reibebaum vor. Ein spannender Abschnitt gibt ihre Sichtweise zum Block West wider. „Zum Beispiel, worüber wir viel geredet haben, dass wir sehr selbstkritisch sind und uns selbst hinterfragen und uns manchmal auch bremsen in unserer ständigen Selbstreflexion. Das ist meiner Meinung nach schon einer der größten Unterschiede zu Rapid. [...] Einfach dieses ,Wir sind Rapid!‘ und wenn sie öffentlich angegriffen werden, wirst du – zumindest nach außen hin – nie irgendwie einen kritischen Reflexionsprozess wahrnehmen.“ Als Beispiel dafür wird die Homophobie genannt.
Weitere Themen sind auch noch andere österreichische Fanszenen, Europacupanekdoten, Vereinsgeschichte von Sturm Graz (siehe zuletzt Die Gruabn. Das Herz von Sturm und Mythos Gruabn) oder das Liebenauer Stadion. Ein nachfolgender Text der Sturmflut betrachtet noch die Geschehnisse seit dem Führen des Interviews im Jänner 2020 und dem Oktober jenen Jahres.
Solche Einblicke und Interviews suchen ihresgleichen.
Das Interview mit den Landstrasslern ist mit einem Zehntel der Länge bedeutend kürzer. In normalen Dimensionen erfüllen zwölf Seiten aber auch alle Wünsche nach Ausführlichkeit. Ein Auszug daraus mit anderer Schwerpunktsetzung erschien bereits im Ballesterer 152. Das Gespräch bietet spannende Eindrücke der Fanszene des LASK. Gesprochen wird von den Beweggründen der Bildung des Fanzusammenschlusses unter dem Dach Landstrassler und der Umsetzung der Ambitionen, die den LASK weg von dem früheren Bild bringen soll, dass der Interviewer in einer Frage zutreffend zeichnet: „Früher hat es im Stadion immer einen großen Schwenker mit einem Bierkrug gegeben. Der war zusammen mit rechter Politik und dem Ruf der Umlandfans das klischeehafte Bild, das man als Außenstehender vom LASK hatte. Ihr habt dem Ganzen nun doch einen anderen Stil verpasst.“
Neben einer Kurvenentwicklung weg von Alkoholismus und Rechtsextremismus-Toleranz, der Freundschaft mit YB oder Graffiti geht es im Interview auch um den Stadtrivalen. Die Landstrassler erzählen: „Wenn man vielleicht sogar noch etwas weiter als zehn Jahre zurückgeht, war Blau-Weiß mal die Nummer eins der Stadt. Sie haben seither massiv abgebaut. [...] Wir haben andere Sorgen, Gegner und Ziele.“ In einer spannenden Passage heißt es zur Bedeutung des Konflikts mit den Green Lions für die Entwicklung der LASK-Szene: „Wir hatten einen Gegner, der zu jener Zeit besser war als wir. Und wenn du einen stärkeren Gegner hast, musst du auch besser werden. Hätten wir uns die letzten fünf Jahre mit Blau-Weiß beschäftigt, wären wir nicht weitergekommen.“
Lehrreiche Informationen gibt es im Heft aus den Erzählungen des Autors der Partizan-Fußballfibel samt Kollegen sowie einem Text zum 25. Jahrestag des Massakers von Srebrenica, als nach der Eroberung der Stadt 1995 rund 8.000 muslimische Gefangene ermordet wurden, in der bosnischen Stadionkultur – zwischen „Kein Vergeben. Kein Vergessen.“ zur Aufrechterhaltung der Erinnerung an die Getöteten und „Messer, Stacheldraht, Srebrencia!“-Gesänge zum Feiern der Mörder. Auf eine Bildungsreise führt einen ein Reisebericht samt Interview und Hintergrundinfos über die Fentagin nach Griechenland zu Atromitos nach ... – nein, nicht Athen sondern Peristeri. „No Athens – Peristeri!“ heißt es dort.
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