Mittwoch, 25. Dezember 2019

Erlebnis Fußball, 79





Rezension

Erlebnis Fußball
Ausgabe 79
Oktober 2019
194 S.










Mit 194 Seiten und dabei 112 Seiten Interview mit der Schickeria von Bayern München legt Erlebnis Fußball hier ein gewichtiges Heft vor. Das Schickeria-Interview ist trotz seiner Länge aufgrund des bemerkenswerten Einblicks, der geboten wird, und der offenen Worte zu vielen Themen, alles andere als langweilig. Man erfährt über die Entwicklung der Ultraszene dort und die Chiffre „Würzburg“, als es 2007 fast 100 Stadionverbote und 15 Leute in Untersuchungshaft nach dem bekannten Fall des Augenlichtverlusts der Frau eines Busfahrers durch Flaschenwurf bei einer Auseinandersetzung gab. Man spricht offen über die Folgen im persönlichen Umfeld und innerhalb der Fanszene „egal mit wem du geredet hast, auch Leute mit denen ich heute rede, die mittlerweile wohlgesonnen zur Schickeria sind. Wir waren damals der Abschaum für sie.“ Ein Knackpunkt der Gruppengeschichte. „Wir hatten vorher ja ein offenes Mitgliedersystem und waren 700 Leute und dann sind wir plötzlich mit zwei Neunern auswärts gefahren.“ Auf die Kündigung aller Jahreskarten und die Ansage von Uli Hoeneß „Diese Leute sind kein Teil von Bayern München“ reagierte man u.a. mit dem großen Banner Bayern München, das als Schickeriafetzen bei Heimspielen im Zentrum der Kurve hängt. Ein Stadionverbot ist auch deswegen schwerwiegend, wie sie erzählen, da es immer mit Vereinsausschluss und Entzug der Jahreskarte verbunden ist. Ohne Heim-Jahreskarte gibt es auch keine Auswärtsdauerkarte. Ein Problem bei immer ausverkauften Spielen. Der beständige Kartenmangel wurde schließlich mit einem für Vereinsmitglieder frei zu kaufenden Tageskarten-Kontingent in der Südkurve entschärft.
Ein spannendes Thema im Gespräch ist das Allesfahren, denn mit dem Europacup haben sie ja eine nicht nur große Anzahl von Pflichtspielen sondern auch jedes Jahr zahlreiche große Distanzen und teure Reisen. Man lebe heute die Devise vor „Mach nicht auf Biegen und Brechen alles, sondern fahr lieber 10 Jahre am Stück 90 Prozent als 2 Jahre 100, um dann wegzubrechen.“ Denn: „Also klingt blöd, aber das Thema Schulden ist halt auch sehr verbreitet.“
Auch die Passagen über das Verhältnis zum Verein sind interessant. Man gewinnt doch den Eindruck einer abgeklärten Distanz. Das Verhalten der Spieler gegenüber der Kurve ist auch in deren Verträgen festgeschrieben, wie erzählt wird: „Also die müssen nach dem Spiel bis zu einem bestimmten Punkt vor den Block kommen, dürfen aber nicht darüber hinaus näher herankommen“ und dass „wenn Pyro gezündet wurde, die Spieler nach Abpfiff dann nicht zur Kurve kommen dürfen.“
Weitere Thema sind Freundschaften, Alt und Jung, Stil, die Gruppe, Politik, Pyro, Europacupabenteuer, Rivalen, das Stadion, Fanzines etc.

Über den Weg von Wydad Casablanca in das afrikanische Champions-League-Finale und den großen Fußballskandal dort gibt es Reportagen von den Spielen. Wieder einmal denkt man bei den Bildern und Texten, dass es schon interessant wäre, dort einmal hinzufahren. Aber es ist eben doch sehr fraglich, ob sich das realistisch betrachtet bei mir jemals ausgehen wird.

Wunderbar ist erneut der Italien-Teil des Hefts mit lesenswerten Spielberichten, deren Informationen aufgesogen werden. Bereits im vorigen Heft gab es einen Blick nach Griechenland. Als Fortsetzung gibt es hier ein Interview zu AEK (Original 21) und allgemein der Fanszenenlandschaft dort. Zur Feier der 300. Ausgabe des 30 bis 40 Seiten starken Spieltagshefts Bratwurstdealer der Horda Azzuro von Carl Zeiss Jena gibt es ebenfalls ein Interview, das einige Einblicke gewährt.

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