Mittwoch, 16. Februar 2022
Türkgücü München – 1860 München 2:1 (0:0)
Deutschland, 3. Liga, 22. Spieltag, 16.2.2022
Olympiastadion, 8.350
Flutlichtspiel im Münchner Olympiastadion. Nach 17 Jahren war der Anhang des
TSV 1860 München wieder hier und sah eine schwache Leistung seiner Mannschaft, die in einer ebenso überraschenden wie verdienten Niederlage endete. In der Schlussviertelstunde fielen alle drei Tore. Im Trainerkarussell von Türkgücü agiert derzeit das ungewöhnliche Duo aus Ex-Rapidspieler Heraf und Ex-Rapid-Trainer Djuričin.
Das „Oh Türkgücü“ der mit türkischen Flaggen ausstaffierten Fankurve wurde nach der Melodie des eingängigen „Oh Cim Bom Bom“ von Galatasaray gesungen. Dazu gab es u.a. „Tod und Hass dem TSV“ oder „Hier regiert der TGM“ zu hören.
Organisierten Support gab es auf 1860-Seite aus pandemiebedingt bekannten Gründen nicht. Vornehmlich alte 1860-Chants der Marke „Schalala, Sechzig München!“ oder „Auf geht's Löwen, kämpfen und siegen!“ waren hie und da aus der Nordkurve zu hören, in der sich der 1860-Anhang in seiner alten Kurve wieder versammeln konnte. Beliebt waren auch „Jeder Rote ist ein Hurensohn“ oder „Wer nicht hüpft, der ist ein Roter“, was ja sowohl auf den Stadtrivalen als auch die gegnerischen Farben und Dressen von Türkgücü passte. Im Verlauf des Spiels wurde alles aber ein wenig müder.
Die Partie war ein Nachtragsspiel, nachdem der ursprüngliche Termin vor einem Monat aufgrund Coronainfektionen abgesagt hatte werden müssen. Während damals keine Zuschauerinnen und Zuschauer erlaubt gewesen wären, galt nunmehr die Höchstgrenze von 15.000 – wobei sich Türkgücü in Absprache mit den Behörden aus Kostengründen für die Matchtags-Organisation im Onlineverkauf eine absehbar ausreichende Obergrenze von 10.000 setzte und die Tageskassen am Spieltag nicht öffnete. Vor Spielbeginn staute es sich an den Eingängen, sodass das Match mit fünf Minuten Verspätung angepfiffen wurde. 8.350 ist der bisherige Rekordbesuch von Türkgücü im Olympiastadion. Der vorherige Höchstwert waren 2.209 gegen die U23 von Borussia Dortmund im September 2021 gewesen. Durchschnittlich besuchten 1.193 Zuschauerinnen und Zuschauer die sechs im Olympiastadion zuvor ausgetragenen Saisonspiele. Der bisher hier zu verzeichnende dreistellige Groundhopperanteil im Publikum von 10% bis 20% der Gesamtzahl wird aufgrund der 1860-Fans diesmal prozentuell niedriger gewesen sein. Während die aktive Fanszene um die Münchner Löwen aufgrund der Pandemie-Maßnahmen ohnehin die Spiele nicht supportet, hatte es unter dem 1860-Anhang im Vorfeld Debatten und Boykottaufrufe für dieses Spiel gegegen. Beim Beginn des Kartenvorverkaufs Ende Jänner war die Fortsetzung des Spielbetriebs von Türkgücü nach ihrem Insolvenzantrag noch offen. Die Diskussionen drehten sich einerseits darum, ob man mit einem Kartenkauf ohnehin nur ohne Gegenleistung in die Insolvenzmasse einzahlen würde, und andererseits um die Grundsatzfrage, ob man mit seinem Geld zur Erhaltung des fragwürdigen Investorenprojekts beitragen wolle.
Eine große türkische Fangemeinde für das seit 2019 so heißende Türkgücü München nehmen aufgrund des Marketing-Namens, der an einen Vorgänger erinnert, Irregeleitete gern an. In Der tödliche Pass 98 erklärte der 1860-Anhänger Claus Melchior profund, dass man das Türkgücü München, mit dem man es hier zu tun hat, nicht mit dem dem Vorgänger SV Türk Gücü verwechseln dürfe. Dieser von 1975 bis 2001 bestehende Verein spielte von 1988/89 bis 1991/92 in der damals drittklassigen Bayernliga. Jener Verein war „stark in der türkischen Gemeinde Münchens verwurzelt und brachte es gelegentlich sogar auf fünfstellige Zuschauerzahlen.“ Bis zu 12.000 waren es bei den Spielen im Dantestadion gegen das damals ebenfalls drittklassige 1860. In den 1990ern erlebte Türk Gücü aber einen Niedergang, begleitet von Schwinden der Identifikationsfläche durch vermehrte Spieler ohne türkischen Migrationshintergrund, und wurde 2001 aufgelöst. 2009 fusionierte der Nachfolgeverein Türkischer SV München mit dem 1981 als Abspaltung von Türk Gücü entstandenen SV Ataspor München zum SV Türkgügü-Ataspor. 2016 übernahm ein türkischstämmiger Unternehmer den in der sechstklassigen Landesliga spielenden Klub, pushte ihn mit viel Geld und einem Durchhaus zahlreicher Spieler und Trainer die Ligen hinauf und benannte ihn 2019 auf den Namen Türkgücu um. Melchior stellt nüchtern fest, das wäre schlicht „auch nichts anderes als ein Investorenklub“ eines reichen Alleinherrschers mit Hire-and-Fire, der das für sein Ego mache. „Fans hat Türkgücü nämlich kaum, selbst in der Regionalliga bewegten sich die Zuschauerzahlen vor Covid eher im dreistelligen Bereich.“ schrieb Melchior 2020. In der 3. Liga angekommen, machte der Investor das, was reiche Leute im Fußball tun, wenn ihnen ihr Spielzeug fad wird: Er stellte die Zahlungen ein und wandte sich anderem Freizeitvergnügem zu. Türkgücü ist damit pleite und musste mitten in der Saison Insolvenz anmelden. Mit dem dafür anstehenden Punkteabzug von neun Punkten durch den DFB wird der Abstieg wohl ebenso feststehen wie bei einer noch möglichen Einstellung des Spielbetriebs vor Saisonende. Das hätte dann zur Folge, dass alle Saisonspiele annuliert würden.
Für 1860 München war es nicht das erste Spiel im Olympiastadion nach dem Auszug 2005 gewesen. Diese Rückkehr erfolgte nach 16 Jahren oder 5.859 Tagen bereits im April 2021 beim Auswärtsspiel gegen Türkgücü in der vorigen Saison. Coronabedingt war das damals aber ein Geisterspiel, sodass dieses Mal auch die Rückkehr der 1860-Anhangs erfolgte. Für diesen war das Olympiastadion in den drei Jahrzehnten, in denen man hier zeitweise spielte, ein ungeliebter Spielort. Die emotionale Heimat ist das nicht von ungefähr „Sechzger Stadion“ genannte Stadion an der Grünwalder Straße.
Das Olmypiastadion ist das Zentrum des Olympiaparks, das zahlreiche Sportstätten der Olympischen Sommerspiele von 1972 umfasst. Es wurde 1972 eröffnet und diente bis 2005 dem FC Bayern München (793 Spiele) sowie zeitweise 1860 München (344 Spiele) als Spielstätte. Es beeindruckt durch seine Bauweise. Zu zwei Dritteln liegt es in der Erde und darüber spannt sich das große Zeltdach über das Stadion ebenso wie die Olympiahalle und die Olympiaschwimmhalle als Blickfang. Nach der Schließung 2005 war das Finale der Women's Champions League 2012 zwischen dem 1. FFC Frankfurt und Olympique Lyonnais vor 50.212 Zuschauerinnen und Zuschauern das einzige Fußballspiel, das hier ausgetragen werden durfte, bis Türkgücü hierher einziehen konnte. Bei dem anstehenden Umbau des Grünwalder Stadions wird 1860 in den nächsten Jahren wieder übergangsweise hier spielen. Es gibt 69.250 Plätze. Beim Rekordbesuch 1973 war 1860 München Gastgeber. In der zweitklassigen Regionalliga herrschte beim frisch aufgestiegenen FC Augsburg große Euphorie, sodass über 30.000 Leute aus Augsburg nach München kamen. Die 79.000 aufgelegten Karten reichten bei weitem nicht. Abertausende Leute stürmten nach Anpfiff die Tore. Es befanden sich damals zwischen 90.000 und 100.000 Menschen hierin und sahen ein 1:1.
Rapid spielte hier vor einem Vierteljahrhundert am 4.11.1997 gegen 1860 München im UEFA-Cup. Nach dem 3:0-Sieg im Hinspiel reichte die 2:1-Niederlage hier für das Weiterkommen, war über lange Zeit zu zehnt aber eine Zitterpartie bis Zingler das wichtige Auswärtstor erzielte.
Bei der Besichtigung des leeren Stadions 2011 konnte ich auch den Blick vom Olympiaturm auf das Stadion hinab werfen. Dieser war an diesem Tag geschlossen.
Vor dem Spiel wurde die Gedenkorte zum Olympia-Attentat 1972 im Olympiapark besichtigt.
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