Mittwoch, 15. Dezember 2021

Ballesterer Bibliothek 1: Fußballstadt Wien




Rezension


ballesterer bibliothek 1
Fußballstadt Wien
Wien, November 2021
148 S.










Ein Buch! Mit der ballesterer bibliothek begann die beste Fußballzeitschrift des Erdkreises die Herausgabe einer jährlichen monothematischen Sonderausgabe in Buchform. Das Thema der ersten Nummer hätte nicht besser gewählt sein können, widmet es sich doch Wien als Fußballstadt.

In fünf Kapiteln geht es hier um Epochen, Klubs, Stadien, Basis und Kultur des Fußballs in Wien. Moritz Ablinger und Jakob Rosenberg analysieren die Spuren des Fußballs in Wien: In der öffentlichen Sichtbarkeit oder der Tourismus-Werbung hat der Fußball in Wien keinen Platz, im Unterschied zu anderen Fußballstädten. „Die Wiener Klubs füllen ihre Stadien nicht so wie englische oder deutsche Erstligisten, viel weniger Fans als in anderen Städten derselben Größenordnung sind in Wien aber auch nicht unterwegs. [...] Laut dem Landesverband sind zwischen 50.000 und 70.000 Menschen als Aktive und Zuschauer pro Woche auf den Plätzen der Stadt, dazu kommen die Fans der beiden höchsten Spielstufen.“
Georg Spitaler beschreibt Wien als Fußballhauptstadt der Zwischenkriegszeit, Helge Faller über die trotz ÖFB-Verbots etablierte erste Fußballiga der Frauen 1936, die von den Nazis dann 1938 gleich wieder aufgelöst wurde. Wie die Nazis dem Fußball ihren Stempel aufdrückten und wie unterschiedliche Folgen dies für „Mitläufer, Profiteure und Verfolgte“ zeitigte, ist erneut Thema von Georg Spitaler. Clemens Zavarsky portraitiert mit Gerhard Hanappi und Ernst Ocwirk zwei Weltstars ihrer Zeit und Prototypen des Wiener Fußballs der 1950er Jahre, Herbert Prohaska erzählt im Interview aus seinem Leben, Emanuel Van den Nest beschäftigt sich mit dem Mythos Stadthallenturnier und eine Karte visualisiert die geographische Lage der 34 Wiener Fußballvereine, die zumindest eine Saison erstklassig gespielt hatten. Beim Studium der Karte ist hier auch ein QR-Code zu entdecken. Nachdem man im Technologiekennenlernschub im Zuge der Pandemie erfahren hat, was das soll und wie man damit umgeht, wusste ich, das Handy darüber zu halten, woraufhin sich die Karte interaktiv im Internetz öffnete. Zusätzlich zu dem Buch bietet der Ballesterer auf bibliothek.ballesterer.at nocheinmal Stoff.
Was wie eine Inhaltsangabe eines bereits hervorragenden Buchs über die Fußballstadt Wien klingt, war doch nur das erste Kapitel.

Was soll denn jetzt noch kommen, denkt man, und liest dann herrliche Texte wie von Stefan Kraft über den „Eisenstädter Augenblick“ (1983 gewann Rapid den Meistertitel hier in der letzten Runde, „im brachial überfüllten Lindenstadion brachen alle Dämme, ein berühmtes Foto wurde geschossen und eine neue Fangeneration stürmte auf das Feld.“), Sabine Eders Erinnerungen an 19 Jahre als Fußballerin bei USC Landhaus aus dem Kapitel über Klubs, schöne Texte von Raphael Gregorits über Wiener Stadien, eine Reportage von Benajmin Schacherl über den Wiener Unterhausfußball („Ihr Überleben sichern Schnitzelsemmeln, Nähe und viel Idealismus“), Nicole Selmer über den eigenen Weg der Fanszenenentwicklung beim Wiener Sport-Club und der Vienna seit den 1980er Jahren, „die den Klubs neues Leben einhauchten“, Moritz Ablinger des Nächtens unterwegs mit lila Graffitimalern oder Thomas Lanz über „gezogene Notbremsen, bunte Choreografien und dem Fanatismus als Antrieb“ mit dem sich die Rapid-Fanszene den Ruf als lauteste und gefürchteste Fanszene des Landes hart erarbeitet habe.

Das alles und noch viel mehr lässt nur einen Schluss zu: Der Ballesterer hat sich hier selbst übertroffen.

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