Rezension
Pierluigi Spagnolo
Stadionrebellen
Eine Geschichte der italienischen Ultrabewegung
Übersetzt von Kai Tippmann
Leipzig 2020
(Erlebnis Fußball)
290 S.
Im 2017 auf italienisch als I ribelli degli stadi. Una storia del movimento ultras italiano erschienenen Buch bringt Pierlugi Spagnolo seine Kenntnisse als Journalist (aktuell bei der Gazzetta dello Sport) und als jahrzehntelanger Kurvengänger der Curva Nord von Bari zusammen. Übersetzt von Kai Tippmann, der bereits instruktive Bücher aus der italienischen Ultrawelt wie vor allem Tifare Contro in die deutsche Sprache übertragen hat, wurde es von Erlebnis Fußball auf Deutsch herausgegeben.
Das Buch bietet eine Geschichte der italienischen Ultrabewegung, indem es „eigene Erfahrungen des Autors mit den Analysen von wissenschaftlichen Arbeiten und Studien zur Ultrabewegung mischt, indem es die maßgebenden Meinungen derjenigen, die das Phänomen studiert haben mit den Worten der Protagonisten verflechtet, mit historischen Informationen und der Liebe für die Forschung und Erzählung. Und es wird eine Prise Leidenschaft hinzugefügt.“ Basis ist ein sichtlich großes Wissen und breite Literaturkenntnis zum Thema.
Spagnolo beschreibt den Kontext der italienischen Gesellschaft und die Entstehung der Ultras in ihrem Zusammenhang. Der Aspekt des Erlebnisses im Stadion macht einen Großteil des Faszinosum Ultrà aus. „Jahrzehntelang war der Stadionbesuch für viele Italiener ein einfaches Sonntagsvergnügen, ein Termin, um die Routine der Arbeitswoche in Fabrik und Büro, Schule oder Universität zu unterbrechen. Ab den Siebzigerjahren wurde die Leidenschaft für den Fußball und die Angewohnheit, zum ,Ballspiel‘ zu gehen, wie es Rita Pavone schon seit zehn Jahren besingt, für viele zu etwas viel Wichtigerem. [...] Fußball und Support wurden bereits zum gemeinschaftlichem Ritual, das jeden Sonntag von den Rebellen der Stadien begangen wurde.“
Es finden sich im Buch einige prägnante Sätze, die viel an Essenz zusammenfassen. Die Kurve als sozialer Ort, Tifo, Blockfahnen, Gesänge, der zwölfte Mann – das ist alles Thema des Buchs und eine spannende Lektüre. Veränderungen werden thematisiert, etwa was Gewand und das äußere Erscheinungsbild betrifft oder legendäre Slogans und Spruchbänder. Neben der ausführlichen Thematisierung der Gewalt und der vielen Toten, was notwendig und auch gut zu beschreiben ist, kommt dennoch die Dimension des Stadionerlebnisses ebenjener „Stadionrebellen“ selbst ein wenig zu kurz. Eine Geschichte der Gemeinschaftserlebnisses des Tifo was Gesänge, Choreographien und Optik betrifft, ist aber wohl ein zu großes Desiderat. Hier ist die Quellenlage für eine gesamtitalienische Betrachtung deutlich schwieriger. Einige der aufwendigen Bücher von Kurven und Gruppen könnten hier Ansätze bieten. Aus außeritalienischer Perspektive ist es immer wieder beeindruckend, auf Bildern der 1970er und 1980er Jahre in den Kurven einen Standard zu erkennen, der in anderen Breitengraden erst Jahrzehnte später erreicht wurde. Auch auf einigen hier abgedruckten Bildern (in schwarz-weiß) bleibt man in Vergegenwärtigung des Entstehungszeitraums länger hängen.
Spannend ist Spagnolos Periodisierung, nach der sich auch die Kapitel des Buchs orientieren:
- „Die Geburt 1968 und in den folgenden Jahren
- Selbstbestätigung und Expansion in den Siebzigerjahren,
- explosionsartiges Wachstum und Radikalisierung des Phänomens in den Achtziger Jahren.
- maximaler Höhepunkt der Bewegung in den fünf Jahren vor und nach der WM in Italien 1990 (ungefähr 1988 – 1993),
- der Wendepunkt mit Beginn des Pay-TV (1993) und die Phase nach der Ermordung von Spagnolo in Genua (1995),
- der zunehmende Zuschauerschwund in den Stadien, die Sondergesetze und der Niedergang der Bewegung ab der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre und in den darauffolgenden (ca. 2000 – 2010) und
- neue Tendenzen und Versuche eines Neubeginns ab 2010 nach der Einführung der Fankarte ,Tessera del Tifoso‘.“
In den Kapiteln geht Spagnolo auch jeweils auf die Themen der Zeit ein, so etwa das Leeren der bis in die 1980er Jahre stets knallvollen Stadien oder das Aufkommen von Polizisten und Giornalisti Terroristi als Feindbild in jüngerer Zeit. Eigene Abschnitte beschäftigen sich mit dem calcio popolare als Reaktion auf die Kommerzialisierung und Entfremdung vom Fußballgeschäft oder mit der Spiegelung der Fußballkultur in der Populärkultur wie Musik und Filmen.
Rapid kommt im Zusammenhang der Fanfreundschaften vor (Venedig). Reinhard Krennhuber und Jakob Rosenberg vom Ballesterer werden namentlich erwähnt im Abschnitt über die Napoli-Zugfahrt nach Rom 2008 und ihre wichtige Arbeit in der Richtigstellung der damaligen Skandalisierung.
Für den Ort Stadion findet Spagnolo einen interessante Definition: „Für viele Fans war und ist die Kurve heute noch eine Art Fitnessstudio für das Leben, ein klassenloser Ort, an dem man sehr unterschiedliche Personen trifft [...]. Für viele ist die Kurve ein Ort starker Bindungen und unerwarteter Solidarität.“
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