Donnerstag, 16. Februar 2012

Ballesterer 69


Rezension



Ballesterer fm
Nr. 69, März 2012
66 S.






Über die verwickelte Fußballkultur in der ostdeutschen Stadt Leipzig berichtet Hans Georg Egerer in einer interessanten Reportage. „Hier wurde Fußballgeschichte geschrieben und trotzdem trifft die Bezeichnung Traditionsverein auf keinen der Klubs wirklich zu. Zu oft wurde fusioniert, umbenannt, ausgelöscht und neu gegründet − zuerst von der DDR-Bürokratie, dann im Zuge der Wendeeuphorie und zuletzt vom Masseverwalter.“ umreißt er die Lage in der Stadt. In wohltuender Weise vermeidet er weitgehend die bestimmenden Topoi der meisten bisher gelesenen Artikel über diese Terra incognita des Profifußballs, nämlich Hooligangewalt und/oder langatmige Diskussion des Marketingprojekts des Dosen-Zuckerlwassers. Dazu gibt es von Clemens Zavarsky Seitenblicke auf die großen Stunden des Leipziger Fußballs, auf die überraschende DDR-Meisterschaft der BSG Chemie 1964 und den sensationellen Einzug von Lok Leipzig in das Finale des Europacups der Cupsieger 1987.
Den Schwerpunkt über ostdeutschen Fußball runden die Erinnerungen an die Jugend in der DDR von Kai Tippmann ab − auf dem Motorrad am Weg zu den Auswärtsspielen seines Vereins Stahl Thale.

Sehr spannend ist weiters im Heft Alexander Juraskes Beitrag in der Serie Fußball unterm Hakenkreuz über die Auswirkungen der NS-Herrschaft für das Schiedsrichterwesen. Von den 380 Schiedsrichtern des Fußballverbands für Wien und Niederösterreich mußten 98 im März 1938 ihre Tätigkeit einstellen, die jüdischen Referees wurden wie alle jüdischen Spieler vom Sport ausgeschlossen. Bald waren sie auch in Lebensgefahr. Das internationale Aushängeschild Hans Walter Frankenstein, der noch im Herbst WM-Qualifikationsspiele gepfiffen hatte, konnte mit seiner Familie flüchten. Schiedsrichter Adolf Rosenberger wurde 1943 mit Frau und Tochter ins KZ Theresienstadt deportiert, wo seine fünfjährige Tochter starb. Er selbst wurde im März 1945 im KZ Ebensee ermordet. Nach 1945 wurden diese Verfolgungsgeschichten vergessen und verdrängt.

Eine Diskussionsrunde zum aktuellen Thema „Westbahnhof-Prozeß“ gegen zahlreiche Mitglieder der Fanszene Rapids zieht einen Vergleich mit dem im Gegensatz dazu jüngst mit Freisprüchen beendeten „Tierschützer-Prozeß“. Herauszuheben ist im Heft weiters noch eine Würdigung des früh verstorbenen Sócrates, brasilianischer Fußballgott der 1980er und in der damaligen Militärdiktatur Protagonist des basisdemokratischen Projekts der Democracia Corinthiana seines Heimatvereins, den Corinthians in São Paulo. Sehr schön ist auch das Interview mit mickname zum Heft Clausura Intensiva über das Groundhoppingerlebnis in Argentinien und Uruguay.

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