Mittwoch, 22. Oktober 2008

11 Freunde, 83


Rezension


11 Freunde
Magazin für Fußball-Kultur
Nr.83, Oktober 2008
114 S.






11 Freunde hat einmal als eine intelligente Fußballzeitschrift angefangen, die das Geschehen aus der Perspektive des Fußballfans betrachtet hat. Gescheite Artikel gibt's immer noch, von der Fan-Perspektive haben sie sich im Lauf der Zeit aber immer weiter weg bewegt. Das war einmal. Den mittlerweile gewaltigen Unterschied zum Ballesterer sieht man schön anhand der beiden Oktober-Ausgaben. Der Ballesterer ist in seiner letzten Ausgabe sowie in österreichischen und italienischen Medien der verbreiteten Meldung (dank Recherche vor Ort) entgegengetreten, daß Napoli-Ultras quasi mordend und brandschatzend nach Rom gezogen wären. Dem war nicht so, wie mittlerweile feststeht. 11 Freunde hingegen stellen unter ein Bild des Napoli-Blocks den Text "Gewalttour Auf ihrer Reise zum Auswärtsspiel nach Rom hinterließen 1500 Anhänger des SSC Neapel eine Spur der Verwüstung. Beim Aufbruch in Napoli kaperten sie einen Zug, in der Hauptstadt demolierten sie 20 Linienbusse - und dann machten sie sich auf ins Stadion." Klingt gut, bestätigt Klischees. Aber eine Zeitschrift mit Anspruch, noch dazu eine von Fußballfans, hätte nicht ungeprüft 1:1 dasselbe geschrieben wie alle anderen Medien auch, sondern vielleicht auf Basis des Wissens, daß der italienischen Polizei in ihren Angaben nicht immer unbedingt zu trauen ist, nachgeprüft und nicht nur die Agenturmeldung ins Blatt gestellt. Gegen den modernen Fußballjournalismus heißt's mit Augenzwinkern, aber ernstem Hintergrund beim Ballesterer.

Ein positives Markenzeichen der 11 Freunde war stets, daß sie die Stadien, die in Deutschland die Namen von Sponsoren tragen (was gleich scheußlich ist wie die österreichische Variante, auch Sponsoren im Vereinsnamen zu haben) bei ihrem wirklichen, traditionellen Namen nennen. Warum schreiben sie dann im diesmaligen Leverkusen-Stadionposter von der BayArena anstelle vom Ulrich-Haberland-Stadion, wie das Ding vorher geheißen hat, wie der Begleittext informiert?

Interessant im Heft das gläserner-Sportler-Programm des 1. FC Köln, ein Fotoessay über Celtic und ein Rückblick auf die Aufholjagd von La Coruña gegen Milan 2004 (1:4 und 4:0 für die Spanier). André Widmer, der über den Verein aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny schreibt, hätte sich vorher doch ein bisserl mehr über die politischen Hintergründe informieren sollen.

Nett ein Auszug aus dem Buch Sing when you're winning. Großbritanniens Fußballfans, ihre Songs und eine Suche nach der Seele des Spiels von Colin Irwin, u.a. heißt es da:

"Es sind die Sheffield-United-Fans und ihr Gesang 'We hate Wednesday!', und die Millwall-Fans, die darauf mit 'We don't like Mondays!' antworten. Es sind die Watford-Fans, die den in der Halbzeit zur Begrüßung auf dem Platz erschienenen Ozzy und Sharon Osbourne ein 'Wo ist euer Schmuck nur hin?' singen, nachdem kurz zuvor bei dem Altrocker und seiner Frau eingebrochen worden war. Gott helfe dem armen, irregeleiteten Typen, der auf die Idee kam, in der Halbzeitpause eines Spiels von Cambridge United um die Hand seiner Freundin anzuhalten. Denn die Romantik der Situation wurde etwas durch den lang andauernden Gesang gestört: 'Wir haben deine Alte alle schon gepoppt!' Und als bei einem Treffen von Charlton gegen Coventry City ein frisch vermähltes Hochzeitspaar auf dem Platz auftauchte, wurde es mit heftigem 'Ihr wisst ja nicht, was ihr tut!' empfangen."

4 Kommentare:

  1. Zur Verteidigung der "BayArena" muss gesagt sein, dass mittlerweile das Image als Werkself in Leverkusen sowas wie gewachsene Tradition darstellt. Aber im Großen und Ganzen kann ich die Einschätzung teilen, dass die 11 Freunde immer weniger aus Fansicht (und vor allem für die Erweiterung der Fansicht) bietet. Gerade der Aufmacher des Völler-Interviews entpuppte sich doch als ziemlich seicht und langweilig.

    AntwortenLöschen
  2. das Argument von der Werkself-Image-Tradition sticht, da hast du recht. Dennoch ist es halt dann trotzdem eine Frage des Prinzips, wie man die Stadien nennt. Ansonsten: Danke für die Zustimmung!

    AntwortenLöschen
  3. Stimmt denn was nicht mit der politischen Lage in Grosny? Ich war ja dort, habe sowohl mit Leuten aus dem Volk als auch den Behörden geredet und masse mir darum an, eine Meinung zu bilden.

    A,Widmer, Autor des Artikels, Schweiz

    AntwortenLöschen
  4. Hallo!

    Ich schätze derartige, auf Recherche vor Ort basierende Artikel sehr und habe deinen Text mit Interesse gelesen. Ich kenne Tschetschenien nicht aus eigenem Erleben, ja nicht einmal Rußland. Daher habe ich allen Respekt vor deinen Eindrücken.
    Du erwähnst zwar nachvollziehbar die verständlichen tschetschenischen Ressentiments gegen die Russen auf Basis der nur mühsam mit Erde bedeckten Leichenberge der vergangenen Kriege. Ich hatte bei der Lektüre aber das Gefühl, daß du die Funktion des Fußballs als "Kadyrows Propaganda-Zugpferd", wie du es ja selbst nennst, zu wenig berücksichtigt hast. Ja, mit Sätzen wie dem Zitat des Sportministers "Die Öffentlichkeit außerhalb Tschetscheiniens denkt doch, hier seien noch immer militärische Operationen im Gange" oder "Für einen kurzem Moment ist es, als hätte es einen Krieg in Tschetschenien nie gegeben." fährt der Text auf der Propaganda-Schiene der blühenden Landschaften unter einem geliebten Führer. Was das mafiöse, auf Mord und Folter begründete Regime behübscht (der Politkowskaja-Mordprozeß im Moskau hat ja gerade begonnen). Dieser Aspekt war mir da doch zuwenig drin. Wie gesagt, meinen Eindruck habe ich aus den Medien.

    AntwortenLöschen