Das heutige Stadion Start (Стадiон Старт) in Kiew wurde in der Zwischenkriegszeit als Sportstätte einer nahen Fabrik der optischen Industrie gebaut und hieß Stadion Zenit. Am 9. August 1942 fand hier das sogenannte „Kiewer Todesspiel“ zwischen deutschen Besatzungssoldaten und der Kiewer Mannschaft FK Start statt. Es wurde zum Ausgangspunkt einer der wirkmächtigsten Erzählungen der Fußballgeschichte und bis heute Gegenstand mehrmaliger Verfilmungen. Davon mehr weiter unten im Text nach den Stadionbildern.
1971 wurde im Sinn der sowjetischen Propagandageschichte eines Spiels um Leben und Tod ein heroisches Denkmal auf einer Säule aufgestellt.
In der Nachkriegszeit hieß das Stadion Stadion Avantgarde bevor es dann 1981 zum Gedenken des Spiels Stadion Start benannt wurde. In den späten 70er Jahren und frühen 80er Jahren spielte hier auch eine Amateurmannschaft namens Start in der Kiewer Meisterschaft. Heute finden hier nur Fußballspiele von Hobbymannschaften statt und das Stadion dient den Menschen der Umgebung als öffentliche Grünanlage. 2011 gab es Pläne für den Abriß des Geländes und den Bau eines Einkaufszentrums. Nach Protesten wurden dies aber abgeblasen.
Das „Todesspiel“
Am 19. September 1941 eroberte die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ein schwer zerstörtes Kiew. Die meisten der vor dem Krieg etwa 200.000 jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner hatten fliehen können, aber 50.000 waren zurückgeblieben − vor allem alte Menschen, Frauen und Kinder. Binnen 36 Stunden wurden am 29. und 30. September 1941 33.771 Jüdinnen und Juden in Babij Jar etwas außerhalb der Stadt in einer gemeinsamen Aktion von SS, deutscher Polizei, Wehrmacht und ukrainischen Hilfstruppen erschossen. Bis 12. Oktober hatten sie 50.000 umgebracht. Bis zum Ende der deutschen Besatzung am 6. November 1943 wurden hier insgesamt über 100.000 Menschen von den deutschen Besatzern ermordet: Jüdinnen und Juden, Roma, Kriegsgefangene, Widerständige, Zivilistinnen und Zivilisten. 1942 wurde am Stadtrand das KZ Syrez errichtet, worin abertausende Menschen unter entsetzlichen Umständen gesperrt waren und viele davon umgebracht wurden. Partisanen wehrten sich mit Anschlägen, deutsche Soldaten herrschten in einem blutigen Terrorregime über eine geschundene Bevölkerung. Hunderttausende Menschen mußten aus den besetzten Gebieten zur Zwangsarbeit ins deutsche Reich. Gleichzeitig gab es auch trügerische Hoffnungen, die sich Befreiung von der Sowjetdiktatur erhofften, in der gerade erst Millionen Menschen verhungert waren.
Diesen Hintergrund muß man sich vor Augen führen, wenn man über den Fußball in der Stadt Kiew unter deutscher Besatzung spricht.
Menschenkolonne am Weg zum Markt, Ermordete am Straßenrand
Bild aus dem besetzten Kiew
Bild aus dem besetzten Kiew
Im Frühling 1942 setzte die deutsche Besatzungspolitik in Kiew kurzzeitig Maßnahmen, um die Stimmung der Bevölkerung zu verbessern: Lebensmittelrationen wurden ein wenig erhöht, Kinos und Theater durften aufsperren und es durfte Fußball gespielt werden. Alle Vereine waren nach dem deutschen Einmarsch verboten worden. Als stärkste Mannschaft einer kleinen Freizeitliga zeigte sich die Betriebsmannschaft einer Brotfabrik, der FK Start, der alle seine Spiele zwischen Juni und August 1942 gewann. Hier agierten wohl unter Ägide des Fabriksdirektors Spieler aus den Kiewer Spitzenvereinen Dynamo und Lokomotiv.
Als Höhepunkt gewann der FK Start zwei Fußballspiele gegen eine Flakelf aus deutschen Soldaten der Fliegerabwehr am 6. August mit 5:1 und am 9. August mit 5:3. Das Fußballspiel der Besatzer gegen die Besetzten war kein singuläres Ereignis, Start hatte zuvor gegen drei ungarische Garnisonsmannschaften, eine Mannschaft der deutschen Artillerie-Einheit und der deutschen Reichsbahn gespielt und gewonnen. Dennoch wurde eine Legende und ein Mythos aus dem Spiel des 9. August 1942.
Die Plakate vom Hinspiel am 6. August 1942 und dem Revanchespiel drei Tage später, das dann als „Todesspiel“ in die Geschichte einging.
Vielleicht schon vor und jedenfalls bald nach der Befreiung Kiews 1943 kursierten viele Erzählungen über dieses Match: Vor dem Spiel oder in der Halbzeit wären die Kiewer Spieler mit dem Tod bedroht worden, falls sie auch dieses Spiel gewinnen würden. Sie hätten es als Widerstandshandlung gegen die Besatzer trotzdem getan. Alle Spieler wären verhaftet und aus Rache erschossen worden. Start soll in roten Dressen gespielt haben, um die kommunistische Gesinnung zu zeigen. Die Ausstattung war aber von der deutschen Stadtverwaltung gestellt worden und die Spieler waren keineswegs alle Kommunisten. Es befanden sich unter ihnen Angehörige der dem deutschen Kommando unterstellten Polizei. Auch andere dramatische Details sind nicht belegt. Was wahr ist und was nicht, ist aus der Lektüre diverser Veröffentlichungen leider schwer festzustellen. Ich versuche hier zusammenzufassen.
Das nach dem Spiel am 9. August 1942 aufgenommene Bild der beiden Mannschaften tauchte erst 1992 auf. Es war von einem Deutschen gemacht worden und bei einem ehemaligen Lokomotiv-Spieler verblieben. Die Spieler wirken ungezwungen, es entspricht nicht dem Mythos eines Spiels um Leben und Tod.
Fest steht: Eineinhalb Wochen nach dem Spiel wurden die von Dynamo Kiew stammenden Start-Spieler verhaftet. Dynamo war der Sportverein der sowjetischen Geheimpolizei NKWD gewesen und die Spieler daher NKWD-Angehörige. Die vier Spieler Nikolai Trussewitsch, Nikolai Korotkykh, Alexei Klimenko und Iwan Kusmenko wurden von den deutschen Besatzern ermordet. Bei Korotkykh soll ein NKWD-Dienstausweis gefunden worden sein und er wurde wahrscheinlich zu Tode gefoltert. Trussewitsch, Klimenko und Kusmenko wurden im KZ Syrez bei einer Massenexekution gemeinsam mit anderen Gefangenen ermordet. Die anderen überlebten eine unmenschliche Zeit im KZ.
Sie wurden nicht nach dem Spiel am 9. August verhaftet, sondern Start spielte noch gegen eine aus ukrainischen Nazi-Kollaborateuren bestehende Mannschaft namens Ruch und gewann auch hier 8:0. Möglicherweise wurde daraufhin von einem dortigen Akteur denuniziert, daß sich bei Start Mitglieder von Dynamo und/oder NKWD-Mitarbeiter befinden. Es gibt aber auch Vermutungen, daß die Verhaftungen andere Gründe hatten, von Widerstandshandlungen (Saboteure wurden in der Brotfabrik von der Gestapo erschossen) bis hin zur wieder verschärften Unterdrückungspolitik. Die Ansetzung eines Revanchespiels kurz nach der ersten Sieg gegen die Flakelf spricht dafür, daß die Niederlage die Deutschen störte.
Für die Kiewer Spieler und auch das Publikum dieses und der anderen Spiele (2.000 bis 10.000 Leute sollen es gewesen sein) waren fußballerische Siege gegen Besatzungssoldaten wohl auch ein Ventil und ein Triumph der Unterdrückten. Es war für sie wahrscheinlich nicht einfach ein gewöhnliches Fußballspiel, gegen jene Menschen zu spielen, die außerhalb des Rasens Herren über Leben und Tod waren. „Auf der Tribüne wurde ,Schlagt die Deutschen!‘ gerufen. Die Leute meinten damit nicht nur das Fußballspiel.“ erzählte Vladen Putistin, Sohn des Start Spielers Michail Putistin, dem deutschen Filmemacher Claus Bredenbrock. Auch wenn die Verhaftungen und Morde also nicht in unmittelbaren zeitlichem Zusammenhang mit dem Spiel des 9. August 1942 erfolgten, können sie auf dieses Match oder die Summe der erfolgreichen Fußballspiele zurückgehen.
Iwan Kusmenko, Pawlo Komarow, Michail Putistin, Makar Gontscharenko, Georgi Timofejew, Nikolai Trussewitsch, Fedor Tjutschew, Olexij Klimenko
Die Mythos vom Kiewer Todesspiel erzählt die Geschichte eines Fußballspiels, in dem die Helden lieber gewannen und starben als gegen die Deutschen verloren. Unter den Tisch fiel u.a., daß nicht alle Spieler verhaftet wurden. Aber die Geschichte verbreitete sich noch vor Kriegsende, wurde aus politischen Gründen weiterverbreitet. Die überlebenden Spieler wurden in der Sowjetunion in den Nachkriegsjahren totgeschwiegen oder galten als Verräter. In den 1960er Jahren änderte sich dann die Darstellung des „Todesspiels“ und einige erhielten Orden (v.a. Gontascharenko). Andere blieben unerwähnt, weil sie nach dem Krieg als Kollaborateure verurteilt worden waren (Timofejew, Gundarew), im Westen waren (Komarow) oder sich der Propaganda verweigert hatten (Putistin).
Nach dem Ende der Sowjetunion widerlegten ukrainische Historiker und Journalisten u.a. mit Zeitzeugenberichten die Propagandaversion. Nazis und Revisionisten versuchten auf deutscher Seite aus anderem Interesse die Geschichte zu wiederlegen, die tatsächlichen Morde als Erfindung oder gar als gerechtfertigte Tötungen darzustellen. Daß deutsche Staatsanwaltschaften zweimal ein Verfahren mangels zugänglicher Beweise einstellten, dient ihnen als Bestätigung.
Die eingesperrten, verfolgten und ermordeten Fußballer waren Opfer der nazideutschen Besatzungspolitik, mit 100.000 anderen Ermordeten in Kiew. Das darf und kann nicht weggewischt werden. Auch wenn die Propagandageschichte falsch ist, die Morde und das Leid der ins KZ Gesperrten sind echt und belegt.
Die Geschichte vom heldenhaften Todesspiel wurden in der Sowjetunion und im Ostblock in Artikeln, Romanen und Filmen erzählt und fand auch in den Westen.
1962 entstand der sowjetische Film Die dritte Halbzeit (Третий тайм) des Regisseurs Jewgenij Karelow, den dutzende Millionen Menschen im Kino und im Fernsehen sahen und der die Propagandaversion in weiten Teilen des Ostblock bekannt machte.
Im Westen machte der US-Regisseur John Huston 1981 aus der Geschichte den Hollywood-Film Escape to Victory (deutscher Titel „Flucht oder Sieg“) mit Sylvester Stallone. Er verlegte die Handlung ins besetzte Paris, ließ eine ganze Reihe prominenter Fußballer wie u.a. Pelé, Bobby Moore, Osvaldo Ardiles oder Kazimierz Deyna auflaufen und versah das ganze mit einem Happy End.
2012 erschien ein neuer russischer Film zum Thema mit dem Titel Match (Матч). Der Regisseur Andrej Maljukow erzählt darin erneut die ungetrübte Propagandastory, bettet sie in eine schwülstige Liebesgeschichte ein und gibt dem ganzen eine neue nationalistische Note, indem die Russen im Film heldenhafte Patrioten und die Ukrainer unterwürfige Nazi-Kollaborateure sind.
Neben dem heroischen Denkmal hier im Stadion wurde 1971 auch ein weiteres Denkmal für die vier ermordeten Dynamo-Spieler vor dem Dynamo-Stadion aufgestellt. 1999 errichtete die Stadt Kiew ein drittes Denkmal für die Spieler des FK Start in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätten von Babij Jar (über den Besuch im Zuge der Stadtbesichtigung). Leider konnte ich beide Denkmäler nicht sehen.
Die Geschichte des Kiewer Todesspiels ist mit vielen Ausschmückungsdetails bis heute eine allgemeinbekannter Erinnerungsort der Kiewer und ukrainischen Fußballgeschichte, vergleichbar mit dem WM-Spiel von Córdoba 1978 in Österreich, dem 6:3 über England 1953 in Ungarn oder dem WM-Finale von 1954 in Deutschland. Mythos und historische Wahrheit sind aber hier besonders schwer voneinander zu unterscheiden. Das ist tragisch, da es hier um Ermordete und menschliches Leid geht.
Literatur
- Claus Bredenbrock, Die Todeself. Kiew 1942: Fußball in einer besetzten Stadt. in: Lorenz Peiffer / Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.), Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus. Göttingen 2008, S.504-515
- Gregor Feindt, Erinnerung an das „Todesspiel von Kiew“. Perspektiven für eine Erinnerungsforschung zu Sport in Osteuropa. in: Anke Hilbrenner u.a. (Hg.), Handbuch der Sportgeschichte Osteuropas (online 13.12.2013) [PDF]
- David Forster / Stefan Kraft, Das Spiel vom Tod. Fußball unterm Hakenkreuz, 7. Teil: Kiew. in: Ballesterer 17, Juni 2005, S. 44f.
- Markwart Herzog, Die wahre Geschichte des Todesspiels (Interview). in: Spiegel Online, 15.6.2012
- Jan Tilman Schwab, Das Kiewer Todesspiel − ein Mythos und seine Filme. in: Der tödliche Pass 65, Juli 2012, S. 54f. = Mythos und Wahrheit um das Kiewer Todesspiel. in Cicero Online, 7.6.2012
- Thomas Urban, Regenspiel und Todesspiel. Fußballmythen in Polen und der Ukraine. Vortrag auf der Tagung Fußball, Macht und Diktatur. Streiflichter auf den Stand der historischen Forschung. Karl-Franzens-Universität Graz, 5.6.2012
- Wikipedia, Todesspiel (Fußball), 13.12.2013
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