Mittwoch, 11. März 2015
Istanbul United
Rezension
Istanbul United
D/CZ/T/CH 2014
Regie: Farid Eslam und Olli Waldhauer
u.a. mit Can Atalay, Cahit Binici, Ayan Güner, Kerem Gürbüz, Cace Karakaye, Uğur Vardan
Österreich-Premiere: Filmcasino, Wien, 10.3.2015
Im Sommer 2013 erschütterte eine zuvor in diesem Ausmaß nicht gekannte Protestbewegung die türkische Metropole Istanbul, die drei Monate andauerte und an der sich im ganzen Land 3,5 Mio. Menschen beteiligten. An den Protesten gegen die Verbauung des Gezi-Park in Istanbul und gegen die Politik des damaligen Premierministers und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan nahmen auch Fußballfans teil. Vor allem die bekannten Çarşı von Beşiktaş waren in großer Anzahl und entscheidender Rolle dabei. Überrascht wurde damals regististriert, dass auch von einem Zusammenschluss der an und für sich verfeindeten Fans von Beşiktaş, Fenerbahçe und Galatasaray berichtet wurde. Von diesem „Istanbul United“ handelt der Film.
Es erzählen im Film u.a. Ayhan Güner von den Çarşı von Beşiktaş, Cahit Binici aus der Fenerbahçe-Fanszene sowie Kerem Gürbüz von den UltrAslan von Galatasaray. Der erste Teil des Films stellt die Leidenschaft der Fans der drei großen Vereine und ihre Feindschaft dar. Sie wird auch in expliziter Sprache besungen, die sich um sexuelle Orientierung oder den Wunsch nach Geschlechtsverkehr mit Müttern dreht. Die eindrucksvoll aus den Fankurven heraus gefilmten Bilder erhalten durch die Untertitel-Übersetzung der Fangesänge einen Mehrwert.
Der Mittelteil zeigt die Proteste um den Gezi-Park und ihre Niederschlagung durch Polizeigewalt (acht Tote und achttausend Verletzte). Die härtesten Szenen sind dabei nicht die vom Filmteam aufgenommenen Bilder sondern die von den Demonstrantinnen und Demonstranten mit Handykameras gemachten Videoszenen. Eine Quellenangabe gibt es hier nicht, in einem Interview erwähnt einer der Filmemacher, dass man ein Protestvideoarchiv nutzen konnte. Das bejubelte Eintreffen der schließlich entscheidend beteiligten Beşiktaş-Fans am Schauplatz der Straßenschlachten wird gezeigt, ebenso andere Vereinsfarben. Die medial unter dem Titel Istanbul United bekannt gewordene Allianz von Fans oder gar Ultras der drei großen Vereine nimmt aber keinen großen Platz ein. Dies liegt wohl daran, dass sich zwar Fans an der gleichen Front im Kampf gegen Polizei und Regierung wiederfanden, als Bürgerinnen und Bürger sowie politisch engagierte Menschen mitmachten und dabei sicherlich ein Zusammengehörigkeitsgefühl erwuchs, es aber außer Beşiktaş keine organisierte Beteiligung der Ultras der anderen beiden Vereine in vergleichbarer Weise gab. Diese wichtige Information, die den Begriff Istanbul United relativiert, fehlt im Film. Es war eine spontane Momentaufnahme von Fans, die ihre Farben nebeneinander trugen und sich für ein gemeinsames Ziel engagierten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Der abschließende dritte Teil gilt der Zeit nach dem Ende der Proteste: Das Leben geht weiter, der Fußball geht weiter, die Auseinandersetzung mit der Polizei und die Vereinsrivalität bleiben. Eine Demonstrantin beantwortet die Frage, was sich nun geändert habe, damit, dass sie sich geändert habe. Die wichtige politische Erkenntnis, dass gemeinsam etwas möglich ist, bleibt. Der Film endet mit Bildern der Çarşı von Beşiktaş im Stadion, wobei unerwähnt bleibt, dass diesen gerade aufgrund ihrer führenden Rolle bei den Straßenprotesten im Stadion eine Konkurrenz regierungstreuer Anhänger erwuchs. Auch wenn der Film also seine Defizite hat, ist er in seinen Bildern der Proteste allerdings jedenfalls ein interessantes Zeitdokument und bietet spannende Einblicke in die türkische Gesellschaft, Politik und Fankultur.
Im Anschluss an die auf Initiative der SPÖ-Nationalratsabgeordneten Nurten Yılmaz und des Ballesterer zustandegekommenen Österreichpremiere des Films fand im Wiener Filmcasino eine Diskussion statt. Dabei wurde der Ausblick auf die Zeit nach den Gezi-Park-Protesten um wesentlichen Aspekte ergänzt: Erwähnt wurden Regierungsmaßnahmen zur Ausweitung des Polizeistaats, um solch eine gesellschaftskritische Bewegung nicht noch einmal aufkommen zu lassen, sowie die Einführung der elektronischen Fankarte, die zur Leerung der Stadien in der laufenden Saison geführt hat. Etwas überraschend endete der Abend mit der Verlesung von Gedichten.
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