Montag, 15. August 2011

Alles Derby!


Rezension


Edgar Schütz / Domenico Jacono / Matthias Marschik (Hg.)
Alles Derby!
100 Jahre Rapid gegen Austria
Göttingen 2011 (Verlag Die Werkstatt)
224 S.




In diesem Jahr gibt es das große Wiener Derby seit hundert Jahren. Zu diesem Jubiläum brachten die bewährten Fußballbuchfachkräfte Edgar Schütz, Domenico Jacono und Matthias Marschik ein reich illustriertes Buch heraus, das alle Stückerln spielt.
Die einzelnen Jahrzehnte werden chronologisch beleuchtet und dabei jeweils in gelungener Auswahl zwei prägende Spieler (jeweils einer pro Verein) dieser Dekade portraitiert. Das Geschehen am Rasen („Frontenwechsler“, Legionäre, Trainer und Schiedsrichter) wie die Welt der Fans: Die Erinnerungen des 1928 geborenen Günther Doubek, der sein erstes Derby 1932 auf den Schultern seines Vaters erlebte und beim Tor von Rapid dabei fast runtergefallen wäre, sind wunderbar zu lesen. Rapid-Fanhistoriker Domenico Jacono betrachtet die Rapidfans und Patrick Hosa den Austriaanhang im Wandel der Zeit (samt fankulturellem Richtungsstreit der Gegenwart). Sogar die Sicht der Polizei („Krawall ohne besonderen Anlaß“) findet ihren Platz. Dazu kommen Texte über prominente Funktionärspersönlichkeiten, die jenen Jahren ihren Stempel aufgedrückt haben und − zu meiner speziellen Freude − Artikel über die Stadien, in denen im Verlauf dieses Jahrhunderts die Derbys stattfanden.
An das Praterstadion sowie Pfarrwiese, Hanappi-Stadion und den Horrplatz denkt dabei jede und jeder, allenfalls noch an die Hohe Warte. Doch auch am Wacker-Platz in Meidling (in den 1940er Jahren), am Sportclubplatz in Dornbach (1958) und sogar außerhalb der Stadtgrenze, im Bundesstadion in der Südstadt, fanden Derbys statt. Letzteres im Jahr 1973 − als Neuaustragung, nachdem zuvor das Derby im Prater nach einem Platzsturm (keine Erfindung der Neuzeit) abgebrochen worden war. Nicht nur außerhalb Wiens, sondern jenseits der Landesgrenzen fanden in Budapest Derbys im Rahmen der seinerzeit beliebten Osterturniere statt. 1925 spielten Rapid und Austria sogar eine Exhibition in Turin. Aus heutiger Sicht kurios sind die Begegnungen 1973 in Güssing und 1993 in Wiener Neudorf. „Wichtige Nebensächlichkeiten“ werden solche Schmankerln hier genannt.

Der Blick zurück offenbart immer wieder zwei Dimensionen: Einerseits heute Undenkbares wie ein Freundschaftsspiel einer kombinierten grün-violetten Mannschaft gegen Werder Bremen im Prater im Jahr 1971 oder das ja noch gar nicht so lange zurückliegende „Fan-Derby“ zwischen Mannschaften der Ultras Rapid und der Bulldogs der Austria am grünen Rasen als Vorspiel zum Derby 1995. Andererseits verströmende Nostalgie und Tradition, wenn im Matchprogramm aus dem Jahr 1912 über den Rapid-Platz − also die Pfarrwiese − steht: „Zu erreichen: Stadtbahn-Station Hütteldorf und Straßenbahnlinie 49 und 52.“ Die Magie des Ortes: Dies ist hundert Jahre her, dennoch strömen wir heute auf denselben Wegen ins Stadion ins geliebte Hütteldorf.

Die Bedeutung des Spiels zwischen Rapid und Austria bringt Wolfgang Kralicek in seinen allgemeinen Ausführungen über das Wesen eines Derbys sehr gut auf den Punkt: „Dem Derby ist der Rest der Fußballwelt im Zweifelsfall ziemlich egal. Es ist ein Spiel, in dem es nicht darum geht, drei Punkte zu gewinnen, sondern das Match.“

Das erste reguläre Derby fand gleich in der ersten Runde der ersten Meisterschaftssaison statt, am 8. September 1911 am geschichtsträchtigen WAC-Platz im Prater. Spannend ist dazu der Beitrag von John Chalmers über die „vergessenen“ zwei oder drei Begegnungen vor diesem Spiel im Mai und Juni 1911.
Doch groß war das Match zwischen den neuformierten Amateuren und dem späteren Meister Rapid im Jahr 1911 jedenfalls noch nicht. Die Zuschreibung des Spiels als heiße Begegnung zweier „alter Rivalen“ findet sich bald in der Zwischenkriegszeit. „Eine klare Festlegung dieses Duells als das Derby finden wir in den Zeitungen hingegen erst ab den frühen 1950er Jahren.“ berichtet Matthias Marschik.

In der chronologischen Aufarbeitung gefielen wohl aufgrund persönlicher Vorlieben besonders die Beiträge von David Forster über die 30er und 40er Jahre sowie von Wolfgang Maderthaner über die 50er Jahre, mit dem „Jahrhundert-Derby“ des 7:5 (3:4) der Rapid über die Austria am 1. September 1950.
Schön ist es natürlich auch, über die jüngere, dann selbst miterlebte Vergangenheit nachzulesen. Die Titelbildillustration des Duells Kühbauer-Ogris ist sehr treffend. Vor allem die ereignisreichen Derbys des Jahres 2005 sind in meinem Gedächtnis in vielen Einzelheiten immer noch überaus stark präsent. Die positiven Erinnerungen dabei in den Spielen des Herbst jenes Jahres: Das emotionale, grandiose 3:1 nach schnellem Rückstand zuhause und Lawarées Antritt und Tor direkt vor dem Auswärtsblock am Horr-Platz.
Nicht verschwiegen werden im Buch auch Schattenseiten wie die antisemitische Konnotation der Austria (historisch: nicht nur) vonseiten von Rapidfans, die insbesondere in den 1980er Jahren in antisemitischen Sprechchören gipfelte. Von Austria-Seite wurde dies mit der Beschimpfung Rapids als „FC Jugo“ gekontert. Domenico Jacono analysiert dies unter Rückgriff auf Desmond Morris als „not so much anti-racial as anti-rival“ gemeint, womit er sicherlich nicht falsch liegt. Eine wiederaufgelebte Rivalität, in der man einander vice versa „Tod und Haß“ oder das „verrecken“ wünscht, betrübt zumindest mich persönlich dennoch. Auch wenn es nicht wörtlich zu verstehende Rivalitätsäußerungen sind.

Neben den zahlreichen und gut ausgewählten, schönen Fotos begeistert im Buch der Abdruck historischer Eintrittskarten aus den jeweiligen Epochen, sind die aufgehobenen Karten doch seit jeher ein wichtiger Erinnerungsort von Fußballfans. Interessant sind auch die wiedergegebenen historischen Zeitungsmeldungen. Amüsant dabei immer wieder, wenn hervorgehoben wird, daß Rapid oder Austria im Spiel nicht ihrer idealtypischen Zuschreibung entsprochen habe, also die Austria kämpfte oder Rapid spielerisch überzeugte.
Positiv hervorheben möchte ich, daß in diesem Buch die Namen korrekt geschrieben werden, also unter Einschluß der diakritischen Zeichen wie Hatscheks etc.: Ein Zeichen von Respekt, den ich viel zu oft vermisse und der hier dankenswerterweise erbracht wird.

Ein paar Randbemerkungen:
Schade, daß Thomas Karny in seiner kurzen Doppelbiographie von Rapid-Ikone Franz „Bimbo“ Binder und dem Austrianer Ernst Stojaspal als „Widerständler aus zweierlei Gründen“ Binder als „Widerständler“ aufgrund seiner Tore „auf dem Spielfeld“ beschreibt und nicht berücksichtigt, daß Binder wohl durch ein Herzleiden oder eine nicht notwendige Blinddarmoperation dem Kriegseinsatz an der Ostfront entgehen wollte, wie jüngst im Buch von Rosenberg und Spitaler angeführt. Dies ist angesichts der Diktaturbedingungen zumindest als Ausdruck von Dissens oder Resistenz zu werten. Ganz zu schweigen von der zumindest überlieferten Geschichte von Kurierdiensten für den sich in Frankreich vor den Nazis versteckenden Austria-Präsidenten Emanuel „Michl“ Schwarz.
Wenn Gregor Labes und Domenico Jacono in ihrem Portrait von Rudolf Edlinger von gemeinsamen Zeiten desselben mit Michael Häupl „als Jungsozis in den aufrührerischen Tagen des Mai 1968“ schreiben, geht ihnen die schriftstellerische Verve ein wenig durch. Waren doch weder Häupl, der im Jahr 1968 erst braver Gymnasiast in Krems und dann notgedrungen braver Soldat im Bundesheer war, noch der seinerzeitige Währinger SPÖ-Bezirkssekretär und ab 1969 Gemeinderat Edlinger das, was man unter 68er versteht. Als Häupl als Student in den 1970er Jahren in die Sozialdemokratie fand, war der Mitdreißiger und etablierte Politiker Edlinger auch kein Jungspund mehr.
Bei den Biographien der Autoren und der Autorin am Schluß fehlt Thomas Fellinger.

Eine Fülle spannender Texte sowohl aus Rapid- als auch aus Austriaperspektive sowie mit engagierter, aber um Objektivität bemühter Feder geschrieben macht dieses Buch zum Gustostückerl.

1 Kommentar:

  1. Tolle Rezension, werd mir da Buch wohl holen müssen. UR gegen Bulldogs, Spiele in der Südstadt, Wahnsinn :D

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