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Dienstag, 3. Januar 2012
Von Shakespeare zu Uridil
Rezension
Homunkulus (Robert Weil)
Von Shakespeare zu Uridil
Der geistige Zusammenbruch Europas!
Das Zeitproblem!
Wien/Leipzig 1927 (Verlag Moritz Perles)
64 S.
Pepi Uridil war ein Vollblutstürmer, der laut Rapidarchiv 147 Tore in 127 Pflichtspielen für Rapid schoß (im Rapideum ist er in einer raren Filmsequenz in Aktion zu sehen). Doch noch viel mehr war er im aufstrebenden Fußball der 1920er Jahre der erste Popstar des Fußballs in Österreich. Er agierte nicht nur am Fußballfeld, sondern trat in einer Revue auf, spielte 1924 in einem Kinofilm und machte Werbung für allerlei Produkte. Mit Heute spielt der Uridil besang ihn Hermann Leopoldi 1922 in einem bekannten Schlager. Bereits 1924 erschien, wie bei heutigen Fußballstars, eine Autobiographie, die sich glänzend verkaufte.
Diesen Uridil nahm 1927 der Autor und Kabarettist Robert Weil zum Aufhänger seines kleinen Buches über den Verfall der Sitten in der heutigen Zeit − ein Thema, das beileibe keine Erfindung der Gegenwart ist. Als Kabarettist trat der 1881 in Wien geborene Weil unter dem Namen Homunkulus auf, als Librettist (u.a. für Robert Stolz) unter dem Namen Gustav Holm. 1938 mußte er vor den Nazis fliehen und rettete sein Leben schließlich in die USA, wo er als 60-jähriger Flüchtling in New York als Telegrammbote seinen Lebensunterhalt verdiente. 1960 starb er dort.
Wortreich beklagt Weil in Von Shakespeare zu Uridil den Verfall der Kultur und des Geistes in der neuen Zeit nach dem Kriegsende (des Ersten Weltkriegs), die er als „überhandnehmende Demokratie“ bezeichnet (darin entsprach er einem Zeitgeist bürgerlicher Demokratiekritik). Früher wäre alles anders gewesen:
„Zu jener Zeit, als ich jung war, da haben wir 15- und 16-jährigen Jungens außer den heute üblichen Sportzweigen auch noch einem anderen Sportzweig mit größter Leidenschaftlichkeit gehuldigt, einem Sportzweig, der heute ganz aus der Mode gekommen ist. Dieser Sport waren die klassischen Sonntagnachmittage im Burgtheater. Wenn da Shakespeare, Schiller, Goethe, Grillparzer, Hebbel gespielt wurde − da hat es keinen von uns 15- und 16jährigen zuhause gelitten. (...) Was Einlaßkampf, was stundenlanges Harren im engen Pferch des dichtbesetzten Queus! Was mühseliges, atemloses Ergattern eines halbwegs möglichen Stehplatzes auf der letzten Galerie! Für seinen Lieblingsdichter, für seinen Lieblingsmimen diese kleinen Opfer der Bequemlichkeit zu bringen, schien uns gar nicht der Rede wert.“ (Hervorhebungen im Original)
Letzteres erinnert stark an Stadionerlebnisse und Fußballeidenschaft.
Eine teils spitzfindige Tour d'horizon durch die Kulturgeschichte unternimmt Weil dazu, stets an der Grenze zwischen Ernst und Witz operierend und dadurch mit feinem Humor versehen.
„Von dem deutsche Dichter Emanuel Geibel stammt das schöne Wort:
,Der Dichter steht auf einer höher'n Warte
Als auf der Zinne der Partei!‘
(...) Heute müßte ein solcher Dichter glatt verhungern. Oder aber er müßte nebenbei noch einen zweiten Beruf haben, der ihm die Ausübung des poetischen Gewerbes ermöglicht, z.B. als Stürmer, aber nicht auf einer höher'n Warte, sondern auf der Hohen Warte, dem bekannten Wiener Fußballplatz.“
Immerhin interessant, daß Weil für sein Publikum erklärend hinzufügt, daß er auf das 1921 eröffnete Fußballstadion anspielt, das damals bis zu 80.000 Menschen füllten.
Weil erklärt, es gehe ihm aber nicht um die allgemeine Verdammnis von Sport und Fußball, sondern um die Gewichtigung derselben, die überhandnehme. Daß die eigene jugendliche Leidenschaft für das Theater auch in der verklärten Zeit um 1900 kein Massenphänomen war, ist ihm bewußt: „Weder entspricht es der Wahrheit, daß die Zeit vor 20 Jahren ausschließlich das Gesicht Shakespeares getragen hat, noch stimmt es mit den Tatsachen überein, daß unsere Zeit, die Zeit der Demokratie, ausschließlich das Gesicht des fußballgewaltigen Herrn Uridil trägt.“ Aber früher hätte das Bildungsbürgertum, implizit also er selbst und sein Publikum, gesellschaftlich mehr gegolten, was nun zu seiner großen Wehklage nicht mehr der Fall sei. Mit dem Zusammenbruch der „bürgerlichen Weltordnung“, wie Weil sie nennt, infolge des Krieges, mit der Demokratie sowie der Verarmung sei der Stellenwert der Kultur verloren gegangen. Jetzt drehe sich alles um Geld und einfache Vergnügen (er beklagt bereits eine Amerikanisierung). Sport- und Fußballeuphorie macht er als Ausdruck dieser Entwicklung aus.
Die Lösung sieht Weil in der Priorisierung von Bildung und Kultur: „Erst Shakespeare und dann erst Uridil!“
Das Buch ist ein wunderbares Zeitdokument für die ersten Jahre der Ersten Republik. Es erzählt von den gesellschaftlichen Umwälzungen und ihren Folgen aus der Perspektiven jenes Bürgertums, das sich nach der Verarmung durch Krieg und Nachkriegskrisen nun auch in seinem verbliebenen Status als „bessere“ Schicht, ausgedrückt in durch Bildung und Kultur manifestiertem Habitus, bedroht sah. Standesdünkel regiert hier. Es geht darum, den Kopf und den Rumpf der Gesellschaft zu definieren − Weil verwendet diese anschauliche Metapher einmal. In diesem Bildungs- und Kulturverständnis geht es immer um ein elitäres Verständnis derselben, keinesfalls um ein demokratisches, egalitäres Potential.
Der Fußball und insbesondere die Person des Josef „Pepi“ Uridil dient Weil dabei (ebenso wie Shakespeare) nur als Aufhänger seiner humorvollen Anklageschrift. Dies zeigt aber den Stellenwert des Fußballs und Uridils in der Popularkultur der zwanziger Jahre, der über einen begrenzten Raum des Sportgeschehens hinausging.
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