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Donnerstag, 8. März 2012
Die Mannschaft ohne Eigenschaften
Rezension
Harald Irnberger
Die Mannschaft ohne Eigenschaften
Fußball im Netz der Globalisierung
Salzburg/Wien 2005 (Otto Müller Verlag)
488 S.
Der 2010 verstorbene Journalist und Schriftsteller Harald Irnberger legte mit diesem Buch ein Opus magnum vor, eine streitbare Philosophie des Denkens über Fußball in heutiger Zeit.
Irnberger wurde 1949 in Kärnten geboren, verbrachte die siebziger Jahre im Wiener linken Umfeld, erkundete als Reporter die Welt von Asien bis Südamerika und lebte zuletzt in Spanien, wo er als Korrespondent des Kicker tätig war. Aus seiner österreichischen Herkunft stammte wohl seine Vorliebe für Robert Musil, die nicht nur im Buchtitel erkennbar ist. Jedem Kapitel des Buchs ist ein passendes Musil-Zitat voranstellt.
Irnbergers Herangehensweise an die Thematik einer Vermessung des modernen Fußballs ist die These vom „Fußball als kleine Welt, in der die große ihre Probe hält“ (er entlehnt dies einem Aphorismus Friedrich Hebbels über Österreich). Dabei versucht er, „das Wesen des Fußballs anschaulich zu machen“, indem er „von den bekanntesten Figuren und Protagonisten des Fußballs“ erzählt: „Von Happel und Menotti, von Di Stefano und Pelé, von Cruyff und Beckenbauer, von Maradona und Netzer, von Zidane und Ronaldo, Ronaldinho und Eto'o.“
Dies alles als Teil eines großen ganzen: „Dabei wollen wir vor allem über Fußball reden, doch dabei nicht vernachlässigen, was alles mit Fußball verknüpft ist: Politik und Geschäft, Macht und Einfluss, Medienspektakel und Cäsarenwahn...“. Sehr spannend ist hier zum Beispiel Irnbergers fundierte Analyse des Marketingprojekts der Galaktischen von Real Madrid Anfang der 2000er Jahre, seines anfänglichen Erfolgs unter Vicente del Bosque und die Gründe des Scheiterns in Funktionärshybris.
Ein Herzensanliegen ist Irnberger der technische, spielerische Fußball. Mit den ominösen „deutschen Tugenden“ von „Zweikampfverhalten“ und „Laufbereitschaft“ kann der hispanophile Irnberger nicht nur nichts anfangen, sondern er sieht das Hochhalten des Fußballarbeitens anstelle des Fußballspielens geradezu als Grundübel. Er kontrastiert dies an zwei deutschen Spielern, die im Heimatland wenig geschätzt wurden, da sie Fußball nicht als Dauerlauf und Blutgrätschen, sondern als Kreativspiel verstanden, nämlich Günther Netzer (verbrachte die WM 1974 auf der Bank sitzend) und Bernd Schuster (sah man als Hampelmann statt als Fußballkönner). Sie wurden beide demgegenüber in Spanien hochverehrt. Harsch kritisiert Irnberger Franz Beckenbauer, der als Spieler mit Hirn agierte, aber als Trainer, Funktionär und dampfplauderndes Aushängeschild die Kleingeistigkeit beförderte. Die wenig später, nach Erscheinen des Buches, zu Tage getretene Kulturveränderung in der deutschen Nationalmannschaft und manchen von jungen Trainerpersönlichkeiten geprägten Vereinen bestätigt Irnbergers Ansicht, daß das Übel nicht an einem spezifisch deutschen Spielverständnis oder Nationalcharakter lag, sondern an kleingeistiger Führungsriege.
Manchmal führt Irnberger seine Hochschätzung eines offensiven, spielerischen Fußballs gegenüber einem taktisch geprägten zu etwas zu gewagten Schlüssen, etwa wenn er Italien mit der spanischen Fußballkultur vergleicht und meint „Ein Zidane oder ein Ronaldo kehrten diesem Land nicht den Rücken, weil ihnen in Spanien mehr Geld geboten wurde. Sie gingen, weil sie endlich wieder richtig Fußball spielen wollten.“ Das würde ich nicht unterschreiben, zumal Zidane bei Real Madrid zwar besser zur Geltung kam als bei Juventus, Ronaldo aber in die italienische Spielweise von Inter besser hineinpaßte.
Johan Cruyff und vor allem César Luis Menotti sind Irnbergers Leitfiguren.
An Menottis Verständnis von kreativem, Neuem aufgeschlossenem und flexiblen linkem und starrsinnigem, defensiven rechtem Fußball orientiert Irnberger sein Idealbild des Fußballs. Er versteht dies nicht starr, wie Menotti oft mißverstanden wird, sondern inhaltlich:
„Nicht wie sich jemand definiert ist entscheidend − sondern wie er agiert. Es ist, beispielsweise, überaus zweifelhaft, ob man Ernst Happel ,eine linke und emanzipatorische Gesinnung attestieren‘ konnte − doch er war in der Praxis als Spieler wie als Trainer eindeutig der Repräsentant einer Fußballkultur, die wahrscheinlich nur mangelhaft deutschen Reinheitsgeboten, sehr wohl aber weithin Menottis Vorstellungen vom ,linken Fußball‘ entsprach.“
In einer Tour d'horizon durch den modernen Fußball glänzt Irnberger mit harten und scharfzüngigen Analysen. Seinen Einschätzungen muß man nicht immer zustimmen, manchmal liegt er im Rückblick aus dem Jahr 2012 mit seiner Meinung aus dem Jahr 2005 auch falsch, lesens- und bedenkenswert sind seine pointierten Ansichten jedenfalls immer.
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