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Dienstag, 27. Dezember 2011
Streunende Köter
Rezension
Domenico Mungo
Streunende Köter
(Cani Sciolti)
Freital OT Pesterwitz 2011
(Burkhard & Partner)
313 S.
Auf dieses Buch war ist gespannt, spätestens seitdem ich den Autor Domenico Mungo in einer Podiumsdiskussion des Ballesterer im Februar 2011 im Wien in seiner erzählerischen, historischen, intellektuellen und auch physischen Präsenz sehen und hören durfte (ein Interview im Ballesterer 61 dient als Nachlese). Kai Tippmann, Betreiber des Italien-Blogs altravita.com, übersetzte nach Tifare Contro nun mit Cani Sciolti ein weiteres interessantes Werk der Ultrà-Literatur aus dem Italienischen ins Deutsche.
Domenico Mungo läßt die italienischen Ultras als Akteure seines Buchs auftreten, will sie selbst erzählen lassen, was sie antreibt. Er läßt sie aus verschiedenen Perspektiven (verschiedenen Vereinen) ihre Welt rekonstruieren, von Helden- und Missetaten und immer wieder von ihren „Kämpfen“, den als heroisch empfundenen Ausbrüchen der Gewalt, erzählen:
„Die Ultras sind schizophren. Sie sind alles und das Gegenteil von allem. Sie suchen den Kampf und verleumden die Toten. Aber sie sammeln auch Spenden und Hilfsgelder für Erdbebenopfer und hängen aus Solidarität Transparente auf.
Sie zerstören Stadien, Sonderzüge und Raststätten. Aber es sind auch dieselben, die aus Liebe Choreos vorbereiten und den Himmel in den Farben des Herzens schmücken. Während in den Arterien der Stehplätze mitreißende Sprechchöre pulsieren.“
Die Erzählung lebt davon und gewinnt daraus, daß der Fiorentina-Ultra Mungo weiß, wovon er schreibt. Im Florentiner Teil ist in Kenntnis der Biographie des Autors die Autobiographik unverkennbar. Im Vorwort definiert Domenico Mungo seine Vorgehensweise als eine Art von Kollektivbiographie: „Dieses Buch ist geboren aus persönlichen Erfahrungen, erzählten Begebenheiten, veröffentlichten Zeitungsartikeln, Büchern. Dieses Buch ist geboren aus Raubkopien kollektiver Erfahrungen, aus im Netz gefundenen Quellen, aus der Abänderung bereits bestehender Texte und aus mit dem Wind wandernden Erinnerungen.“
Ein Rahmen faßt die Handlungsstränge des Buchs ein: Der Ich-Erzähler ist ein Teil einer losen Gruppe von Ultra-Autoren. Er flieht vor der Repression, die dem Tod des Polizisten Filippo Raciti im Februar 2007 bei Ausschreitungen in Catania folgte. Unterwegs liest er Texte vieler anderer dieser − glänzend erdachten − Gruppe.
Aus verschiedenen Blickwinkeln läßt Domenico Mungo seine Protagonisten nicht nur die Kommerzialisierung des Fußballs kritisieren, sondern z.B. auch die Kommerzialisierung von jenen Ultras, die sich mehr um eigene korrupte Geschäfte kümmern, mit Vereinsfunktionären, Polizeikräften und Journalisten ihr eigenes abgekartetes Spiel betreiben: „Sie zerfleddern die Unschuld der Grenzüberschreitung für ihre eigenen Zwecke und Interessen.“ lautet die Anklage. Die „Unschuld der Grenzüberschreitung“ der Ultras ist ein schön formuliertes Bild für ihre eigene Welt und ihre eigenen Regeln. An anderer Stelle kommt er zu harten Worten über die Gegenwart: „Wir sind alles Schaufenster-Ultras. Jede Menge Form, aber kaum Substanz. Und wenn es Substanz gibt, dann ist das irgendein durchgeknallter Blödsinn, der die Spannung steigert, die Repression mit Argumenten füttert und die Unverfälschtheit der Bewegung zerstört.“
Die gesellschaftskritischen Passagen sind eine Sache, den Hauptteil bilden aber die Abenteuergeschichten von allerlei Schlägereien, Raufereien, Prügeleien, Randalen, Krawallen etc. Übersetzer Tippmann gibt Mungos Buch den Zusatztitel „Ein Roman über zwei Jahrzehnte italienische Ultrakultur − Freundschaften, Kämpfe und Drogen“. Er hätte auch die Kämpfe zu erst nennen können. Heroische Geschichten allesamt, literarische Schlachtengemälde von Heldentaten, Adrenalin, Opfern und Siegern. Ort und Personen der Handlung sind austauschbar und in vielerlei Erzählungen der Kulturgeschichte seit tausenden von Jahren einsetzbar.
„In jedem Fall gab es eine begeisternde Abfolge von Hinterhalten und Angriffen, Steinwürfen und Episoden blutiger urbaner Guerilla. Leute aus Bergamo sprangen plötzlich aus allen möglichen Gassen und hinter irgendwelchen Hecken hervor und warfen Bengalos, Papierbomben, Blumentöpfe, Absperrgitter und Parkbänke. Aus den Häusern warf man wirklich alles auf uns. Und wir marschierten über die Autos hinweg und griffen unsererseits an.“
Ein herausragender Moment ist es, wenn Domenico Mungo von großen Choreographien in Florenz erzählt, etwa eine das ganze Stadion umfassende Aktion 1991: Anlaß war die Rückkehr des einst so geliebten Roberto Baggio, der ausgerechnet zum verhaßten Juventus gewechselt war − vor dem Rückspiel des inneritalienischen UEFA-Cup-Finales zwischen der Fiorentina und Juventus 1990. Diesem ultimativem Vertrauensbruch wurde bei seinem ersten Gastspiel mit Juve die größte bis dahin gesehene Choreographie entgegengestellt. Die Renaissance-Skyline der Stadt Florenz wurde detailliert in der Curva Fiesole nachgezeichnet präsentiert, in einem vollständig in lila und weiß gehüllten Stadion.
Auch wenn sich bei den genannten Farben bei mir etwas der Magen umdreht: Das sind schöne Momente. Schade, daß es davon nicht mehr im Buch gibt. Man muß dennoch nicht selbst der Gewalt verfallen sein oder sie auch nur gut oder gesellschaftlich akzeptabel finden, um das Buch mit Interesse und Genuß zu lesen.
P.S.: Sehr nett fand ich die dem Buch vorangestellte „Kleine typografische Anmerkung: In diesem Buch wird das Wort juventus immer kleingeschrieben. Es handelt sich dabei um keinen Druckfehler...“. Es ist daher wohl ein Lapsus entgegen der Intention des Autors, wenn dies auf den Seiten 81 und 82 doch zweimal großgeschrieben vorkommt. Nachtrag: Nach Information von Kai Tippmann stand hier im Italienischen ein anderes Wort (gobbi), er ist somit exkulpiert :-)
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