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Mittwoch, 8. Juni 2016
Von Sindelar bis Alaba
Rezension
Von Sindelar bis Alaba
Die Geschichte des österreichischen Fußballs
Die Presse Geschichte, № 4 (2016)
122 S.
Die vierte Ausgabe des von der Tageszeitung Die Presse erstellten Magazins Geschichte widmet sich vor der Europameisterschaft der österreichischen Fußballgeschichte. Obwohl die Betitelung mit zwei Austrianern „Von Sindelar bis Alaba“ abschreckend wirkt, wurde das Heft in die Hand genommen. Es ist allerdings nur zum Teil eine „Geschichte des österreichischen Fußballs“. Der Großteil des Fußballgeschehens, der in den Fußballvereinen stattfindet, ist hier kein Thema. Eine „Geschichte des österreichischen Fußball-Nationalteams“ wäre passender gewesen. Fans ist ein Beitrag gewidmet, der sich nur mit „Fans des Nationalteams“ beschäftigt. Über die österreichischen Fußballvereine, ihre prägende Rolle für die Entwicklung des Fußballsports, ihre zentrale Rolle im wöchentlichen Fußballalltag, ihre Geschichte und Erfolge kann man hier nichts lesen. Sie sind am Rande vorkommendes Beiwerk.
Beeindruckend ist so, wie wenig der in der österreichischen Fußballgeschichte ja nicht ganz unprominente SK Rapid hier vorkommt. Elf Fußballern werden Portaits zuteil, davon finden sich mit Ernst Happel und Gerhard Hanappi zwei Rapidler sowie mit Andreas I. ein Renegat, hingegen doppelt so viele Austrianer. Seinen Portraitartikel über Happel beginnt Thomas Prior, warum auch immer, mit einem Loblied auf die Lilanen Stronach und Alaba. In einem weiteren Text beschreibt er Happel als Vorläufer von Pep Guardiola in seinem Konzept des Ballbesitzfußballs. Im Portrait Gerhard Hanappis wird die Kapazität des von ihm geplanten und nach seinem Tod nach ihm benannten Hanappi-Stadions mit 14.500 Plätzen angegeben. Diese Zahl ist für keine Etappe der Stadiongeschichte korrekt (nehmen wir einen Tippfehler an, in den letzten Jahren waren es 17.500). Der alte Austrianer Robert Sara wird als Außenverteidigervorläufer von David Alaba abgefeiert (wohl zu Recht, aber das ist hier nicht das Thema) und der junge Austrianer Alaba sowieso. Hans Krankl findet nicht als Rapidler sondern in den Texten über Córdoba '78 ein wenig Erwähnung. Aber, Ehre, wem Ehre gebührt, auch Andi Herzog bekommt seine Seiten. Als Rekordteamspieler und Legionär.
In der Rubrik „Zu Unrecht Vergessen“ kommen einige weitere Rapidler vor, wobei der Name Rudi Flögels falsch geschrieben wurde.
„Die Grundfragen aller Fußballhistorie kann nur die große Erzählung beantworten.“ schreibt Johann Skocek in seinem einführenden Essay und beginnt damit bei den Anfängen des Vereinswesen, lange vor Sportvereinen. Mit der Frage „wie kommt der Nationalismus in den Fußball, wieso gibt es überhaupt ein Nationalteam und nicht bloß Vereine“ stellt Skocek eine wichtige Frage. Seine Antwort „Der internationale Fußball übt ein völkerverbindendes Mandat, das sich von den Fesseln und Zyklen der Politik emanzipiert hat.“ überzeugt nicht angesichts der Hochfeste an nationalen Überlegenheitsgefühlen und zum Teil auch gewalttätigen Hass auf andere, der bei Länderspielen in ganz Europa und anderswo allerorts immer wieder zum Vorschein kommt. Im Unterschied zu Rivalitäten im Vereinsfußball steht dies in Verbindung und Rückwirkung mit nationalistischer Politik und ihren staatlichen Ausformungen. Länderspiele und Nationalmannschaften dienen der nationalen Abgrenzung, Selbstvergewisserung und Identitätskonstruktion. Oliver Pink beschreibt im Heft die WM 1954 als ersten großen Schritt zur österreichischen Nationswerdung.
Die einst große Rivalität zwischen Österreich und Ungarn wird beleuchtet. Ein fußballerischer Sieg galt als Triumph über den aus politischen Gründen als Unterdrücker oder arroganten Nachbar nationalistisch verschrienen Nachbar. Dass 1985 bei einem Länderspiel in Hütteldorf die in Zeiten des Eisernen Vorhangs bemerkenswerten 5.000 ungarischen Fans „Hier regiert Hungaria“ skandiert hätten, wie Jürgen Streihammer schreibt, wage ich zu bezweifeln. Es war mit großer Wahrscheinlichkeit der traditionelle ungarische Anfeuerungsruf „Ria Ria Hungária“.
Weitere Artikel beschreiben zusammenfassend die Urzeit des Fußballs in Österreich bzw. in Graz und Wien in den 1890ern Jahren, natürlich das Wunderteam oder die jüdischen Kicker und Funktionäre, die Wien in der Zwischenkriegszeit zur Fußballhauptstadt Kontinentaleuropas gemacht hatten. Inszenierung von Fußballspielen als medial vermittelte Events wird ebenfalls beleuchtet, von Radioübertragungen in Kaffeehäusern einst und „Public Viewings“ heute, wo die fußballuninteressiertesten Menschen Party feiern, bis hin zu den inszenierten Nationalhelden wie Schirennläufern oder Autorennfahrern. Themen sind auch Gijón, die Färöer, die 98er Nationalmannschaft, die Team-Goalies, die Team-Chefs etc.
Über die dunkle Episode im Leben des größten Kickers der Wiener Austria, des „Papierenen“ Matthias Sindelar, schreibt Johann Skocek „Manche Historiker meinen, Sindelar habe sich in der Manier eines Opportunisten einen arisierten Betrieb unter den Nagel gerissen. Andere versichern, Sindelar habe (dem Kaffeehausbesitzer, Anm.) Drill einen anständigen Kaufpreis bezahlt.“ Übertüncht wird dabei in „He-Said-She-Said-Journalism“, dass die einen auf Basis von Dokumenten und die anderen mit tradiertem Hörensagen argumentieren. In der allerdings ohnehin schon zu Tode gekauten Debatte herrscht dabei ja oft ein Missverständnis vor: Um die Zwangslage der Jüdinnen und Juden auszunutzen und sie zu berauben, musste man kein Nazi sein. Das machten Österreicherinnen und Österreicher auch so.
Interessante Lektüre sind die Texte über das Rekordspiel im Wiener Praterstadion, einem Länderspiel Österreichs gegen Spanien (3:0) vor 90.726 Zuschauerinnen und Zuschauern oder den Frauenfußball samt seinen Hindernissen im 20.Jh. und den Vorurteilen, die ihn begleiten. „Für Frauen ist Fußball nicht nur das Spiel zweier Mannschaften mit einem Ball, sondern seit jeher auch ein Kampf um Anerkennung auf- und abseits des Platzes.“ schreibt Senta Wintner. 1935 verbot die FIFA den Frauenfußball und untersagte die Nutzung von Vereinssportplätzen durch Frauen. Noch in den 1950er Jahren verhängte der ÖFB gegen Vereine, auf deren Plätzen Frauen Fußball gespielt hatten, die Streichung von Toto-Geldern und empfindliche Geldstrafen. 1972/73 veranstaltete der Wiener Fußballverband erstmals seit den 1930er Jahren wieder eine Meisterschaft für Frauen, berichtet Wintner. Für die soziale Distinktion des Presse-Publikums relevant ist Ulrike Weisers „Wegbeschreibung“, wie der proletarische Fußball − schlechte Gesellschaft! − „auch in die bürgerlichen Wohnzimmer einzog.“
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