Mittwoch, 16. Dezember 2020

Ballesterer 157




Rezension


ballesterer
Nr. 157, Jänner/Februar 2021
84 S.










Als „Sturschädel der Nation“ portraitieren Mareike Boysen und Mario Sonnberger unter Mitarbeit von Jan Heier und Clemens Zavarsky Toni Polster. Sie zeichnen in verschiedenen Szenen seine Person und Karriere nach. Dabei beleuchten sie auch den Umstand, dass ihm in Österreich in seiner fußballerisch erfolgreichsten Zeit, als Torschützenkönig der spanischen Primera División, beim Nationalteam blanker Hass vom Publikum entgegenschlug. Wie öfters zu beobachten, ist die Erkenntnis, dass Fußball ein Mannschaftssport und kein Spiel von Einzelakteuren ist, weniger verbreitet als man glaubt. Im Text gibt es Erinnerungen eines FAK-Anhängers: „Die Vorwürfe waren, dass er zu wenig läuft, sich für Österreich nicht bemüht, in Spanien zu viel verdient.“ Beim WM-Qualifikationsspiel gegen die DDR 1989 pfiffen 57.000 Zuschauerinnen und Zuschauer im Wiener Praterstadion Polster von Beginn an gnadenlos aus und beschimpften ihn wortreich. „Während anderen Spielern ihr Erfolgsarmut verziehen wird, gilt der einzige Legionär im Team als überbewertet.“ analysiert der Artikel. Polster schoss an diesem Abend als Antwort alle drei Tore zum 3:0.

Im Anschluss an das hervorragende Portrait gibt es ein noch besseres Interview mit Toni Polster. „Ich habe meine Leistung oft aus Konflikten gezogen.“ oder „Man muss auch ein Schlaumeier sein. Man muss die Wahrheit so biegen können, dass es passt.“ sind zwei von mehreren bemerkenswerten Sätzen. Angesprochen auf das erwähnte DDR-Spiel sagt er: „Ich war zwar gut, aber nicht so gut, dass ich das im Umbau begriffene Nationalteam genug hätte beeinflussen können. Das hat ein bisschen gedauert. Aber dieses Spiel hat alles geändert. Da bin ich auf einmal vom unbeliebtesten zum beliebtesten Sportler geworden.“

Als fast prototypischen Austrianer, der Polster immer war, konnte man ihn respektieren. Mögen nicht. Zum Zeitpunkt seines Karriereendes war sein Ruf aber bereits dermaßen gut, dass ihm zu seinem letzten Auftritt in Hütteldorf (im Salzburger Dress) von den Ultras Rapid sogar im Block West das Hauptspruchband zu Matchbeginn gewidmet war. Positiv.

Einen interessanten Aspekt spricht das Polster-Interview mit der von Polster schnell abgewiegelten Frage nach seinem Engagement in einer oe24-Fernsehsendung gemeinsam mit Frau Strache an, in der FPÖ-Politiker als „Prominente“ gefeatured wurden. Für ihn war das trotz des auffälligen Personals „eine Quizsendung. Das hat ja mit Politik nichts zu tun.“ Man könnte ihm das glauben, wenn nicht schon in seiner aktiven Karriere wurde über ihn kolportiert worden wäre, dass ihm von der FPÖ eine Kandidatur angeboten wurde (1997), und Polster nach Fußballerkarriereende im Jahr 2000 prompt den FPÖ-Klubchef im Parlament besucht hatte, nachdem diese mit ÖVP kurz zuvor erstmals eine Bundesregierung gebildet hatte. Jedenfalls ist diese Schlagseite ungewöhnlich angesichts seines langjährigen Engagements bei der Wiener Viktoria, einem Fußballverein, der durch Initiativen zur Unterstützung von Obdachlosen, Flüchtlingen und anderen Benachteiligten der Gesellschaft positiv auffällt. „Die Meidlinger Viktoria setzt auf ein kosmo-proletarisches Familiengefühl: Grätzl vor Nation, Verständnis für Schwächen. ,Der Fußball ist das Instrument, Sozialarbeit die Musik,‘ sagt Obmann Roman Zeisel über die Ausrichtung des Vereins.“ liest man auch hier im Polster-Portrait.

Über das Stadion Kantrida in Rijeka und den nichterfolgten Neubau an diesem schönen Ort berichtet Nino Duit. Es bleibt der Sehnsuchtsort des Anhangs. Der HNK Rijeka spielt stattdessen weiter im Ausweichstadion. „Die Investitionen ins Stadion Rujevica ließen sich ansonsten kaum rechtfertigen.“ ist die nüchterne Erklärung. Das von der Fanszene organisierte Freundschaftsspiel im Stadion Kantrida 2018 gegen Maribor war im übrigen nicht die einzige Rückkehr für 90 Minuten seit dem Auszug 2015. Auch 2019 gab es ein Freundschaftsspiel, gegen Zrinjski Mostar. Das Bild zum Text stammt von mir.

Weitere Themen im Heft sind u.a. Simmering und Corona, zerplatzte Investorenträume in Horn, Degerfors, eine Wanderausstellung zur Arbeitersportbewegung in Deutschland, die Rolle des Fußballs im Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan oder die Position von Fußballfans zu den Frauenprotesten in Polen. Ob man polnische Fanszenen als „Ultras“ bezeichnen kann, wie im Text von Radosław Żak hier geschehen, ist eine philosophische Benennungsfrage. Der Begriff beschreibt dort eher einen Teilaspekt des Fanlebens und nicht einen ganzen Typus wie in italiengeprägten Zusammenhängen.

In meiner Amateurfußballreihe Nebenschauplätze führe ich nach Axams. Im Groundhoppingteil schreibe ich über meinen letzten Auslandsbesuch 2020 in Sopron.

Jakob Rosenberg erinnert sich in einem persönlichen Leitartikel an seine Studienzeit in Neapel und an Maradona. Das Heft hat quasi ein Wende-Cover: Auf der Rückseite sagt der Ballesterer dem verstorbenen Diego Maradona Adiós.

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